Page 499 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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22. Freilich rechnen die Menschen im gewöhnlichen Leben schon
                den Umlauf der Sonne, das heißt, eines einzigen Gestirnes, bis zu ihrem
                Wiedereintreffen an derselben Stelle, für ein Jahr; allein erst, wenn alle

                Sterne wieder an demselben Punkte stehen, an dem sie [zu einer
                gewissen Zeit] gestanden sind, und nach Verlauf einer langen Zeitfrist
                am ganzen Himmel dieselbe Stellung der Gestirne gegen einander
                wieder statt findet, dann kann man dieß erst mit Wahrheit einen
                Jahresumlauf nennen, der aber so viele Jahrhunderte der Menschen

                umfaßt, daß ich es kaum auszusprechen wage.              498  Denn wie z. B. in der
                Vorzeit einmal die Sonne ganz zu erbleichen und zu erlöschen schien,
                um die Zeit, als gerade des Romulus Seele zu diesen Räumen hier sich
                aufschwang; so wird dann, wenn einmal auf derselben Stelle und um
                dieselbe [Jahres- und Tages-] Zeit die Sonne wieder verfinstert wird, und

                zugleich alle himmlischen Zeichen und alle Sterne wieder an demselben
                Punkte wie damals stehen, [von welchem aus sie sich dann weiter in
                Bewegung setzten und umschwangen,] ein [eigentliches] volles Jahr zu
                rechnen seyn: aber wisse, daß von diesem Jahre [seit des Romulus Tode]
                noch nicht der zwanzigste Theil verlaufen ist.
                     23. Darum, gesetzt du gäbest die Hoffnung auf, hierher einmal
                zurückzukehren, wohin alles Streben großer und ausgezeichneter Männer
                gerichtet ist; wie hoch ist denn der Ruhm bei den Menschen

                anzuschlagen, der sich kaum über einen ganz unbedeutenden Theil eines
                Jahres erstrecken kann? Willst du also deinen Blick nach oben erheben,
                und diese Wohnungen und diese ewige Heimath vor Augen behalten; so
                laß dir nicht an dem Gerede des Volkes Alles gelegen seyn, setze nicht
                alle deine Hoffnung auf den Lohn, den dir Menschen gewähren können:

                laß dich die Tugend durch ihren eigenthümlichen Reiz zu Dem hinan
                heben, was wahrhaft Ehre bringt: was Andere von dir reden mögen, das
                laß du dahin gestellt seyn. Reden werden sie freilich. Aber all jenes
                Gerede beschränkt sich auf den engen Raum der Gegenden, den du hier
                siehst, und es ist noch überdieß nie über irgend Einen dauernd gewesen;
                vielmehr wird es mit dem Absterben der Menschen unmerklicher, und
                erstirbt endlich ganz in der Vergessenheit der Nachwelt.

                     24. Als er Dieses ausgesprochen hatte, erwiederte ich: Ja, mein
                Africanus, weil also den um das Vaterland wohl Verdienten gleichsam
                schon die vorgezeichnete Bahn zum Zugange in den Himmel geöffnet
                ist, so will ich denn, wiewohl ich von Jugend auf in meines Vaters und
                deine Fußstapfen getreten bin, und stets gesucht habe, euch Ehre zu
                machen, jetzt, da ich einen so hohen Lohn vor mir sehe, mit noch

                größerer Wachsamkeit [auf mich selbst] zu ihm emporstreben. Nun so




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