Page 8 - ARTEMIS_Nr.9 (Weihnachten 2021)
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Christian Faltl
Handwerk hat goldenen Boden
Heutzutage wollen junge Leute sich kaum mehr die Hände schmutzig machen bei der Arbeit.
Die Eltern fördern das meist auch noch unbewusst, mit dem ewig gleichen Argument, dass es
die Kinder einmal besser haben sollen. Daher wollen viele junge Menschen keine
Handwerksberufe mehr ergreifen. Dass aber Kinder von Natur aus eine große Hochachtung
vor dem Handwerk haben, und dass sie diesen Vorbildern gerne nacheifern wollen, wird oft
übersehen. Selbst in den intellektuellsten Häusern gibt es Kinder die einmal Lokomotivführer
werden wollen, oder Schneiderin. Die folgende Geschichte ist nicht erfunden, sie hat sich
wirklich so zugetragen.
Der kleine Thomas ist kurz vor Weihnachten drei Jahre alt geworden. Thomas war einer jener
seltenen Exemplare, deren Wortschatz nicht mit „Mama“ und „Papa“ begonnen hatte, sondern
schlicht mit dem Wort „Auto“.
Keiner seiner beiden Eltern war in einem Handwerksberuf tätig, auch die Großeltern nicht,
alles höhere Angestellte und Beamte.
Klein-Thomas erkannte die Heimkehr von Vater oder Mutter nicht am Schritt im Flur oder an
dem differenzierten Geräusch des Schlüsselansteckens, nein, er erkannte die Heimkehr des
jeweiligen Elternteiles lange vorher an dem Motorengeräusch des fahrbaren Untersatzes, etwa
beim Einparken vor dem Haus, indem er auf das Fenster deutete durch das das
Motorengeräusch kam und dann eben „Mama“ oder „Papa“ sagte. Er konnte von klein auf die
beiden Autos seiner Eltern auseinander halten und auch von allen übrigen Autos auf der
Straße unterscheiden.
Es war also klar, dass Thomas mit jedem Stock, den er fand, einen Nagel einschlagen wollte,
oder ein Loch in die Wand bohren. Auch auf jedem schaukelnden Automaten, der einem Auto
ähnlich sah, musste Thomas verklärt sitzen dürfen, ansonsten war sein Tag verdorben und der
seiner Begleitung auch, denn Thomas machte seinem Unmut lautstark Luft. Unnötig zu
erwähnen, dass auf einem Kinderringelspiel nur das Motorrad, das Feuerwehrauto und der
Hubschrauber interessant waren. Spielzeugautos hatten einen schweren Stand, vor allem,
wenn sie kein „Innenleben“ besaßen. Kaum ausgepackt, suchte Thomas nach der Motorhaube,
um selbige zu öffnen und das Auto zu reparieren.
Was schenkt man dem aufgeweckten Buben zu Weihnachten? An Wünschen hatte es nicht
gefehlt, aber einige waren nicht altersgemäß und andere waren nicht preisgemäß. Man
beschloss also Klein-Thomas einen riesigen Werkzeugkasten zu schenken. Darin waren alle
erdenklichen Werkzeuge, Nägel, Schrauben, Schraubenschlüssel, Sägen, Hammer und
Zangen, Zollstab, kurz alles, was der Werkmeister oder Mechaniker so brauchen kann. Aber
alles natürlich für Kinder in hautfreundlichem und unzerbrechlichem Kunststoff inklusive des
Werkzeugkoffers.
Am Heiligen Abend, die Großeltern waren auch zur Bescherung gekommen, durfte Thomas
seine Geschenke auspacken. Wie immer waren die praktischen Geschenke, wie Schal und
Socken oder die neue Latzhose nur bedingt dazu angetan, Begeisterung zu entlocken. Aber
der Werkzeugkasten …
Thomas quietschte vor Vergnügen und steckte sofort den Schraubenzieher in die Steckdose.
Hier zeigte sich der unschätzbare Vorteil von Kunststoff. Die Türschnalle war etwas zu hoch,
um mit dem Hammer repariert zu werden. Da waren Opas Schuhe schon weit besser in
Reichweite. Thomas konnte vor Aufregung kaum etwas essen und rutschte alle drei Minuten
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