Page 10 - ARTEMIS_Nr.9 (Weihnachten 2021)
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Christian Faltl
Traktat über die Kunststofftanne
oder „Alle Jahre wieder ...“
Um es rund heraus wirtschaftlich zu betrachten: der Produktlebenszyklus eines Christbaums
ist ein sehr kurzer. Ich schätze so rund 14 Tage. Was also kurz nach „Nikolo“ noch 30 und
mehr Euro kostet, ist am Christtag nur noch Brennholz. Ein Preisverfall von 100 auf null
Prozent in 14 Tagen, das hat nicht einmal die New Economy fertiggebracht.
Biologisch betrachtet ist es ein alljährliches Dressurkunststück der Natur, schnell wachsende
Nadelhölzer innerhalb von 12 Monaten auf eine stattliche Größe von bis zu drei Metern
heranzuzüchten. Früher hatte der Wahnsinn noch mehr Methode, man schnitt von großen
Nadelbäumen die Wipfel ab, damit in Spießbürgers Wohnzimmer die lieben Kleinen ihre
Geschenke unter einem duftenden Christbaum aufreißen können.
Eine ernste, ökumenische Debatte ist angesagt!
Übrigens, wieder war es der geschichtsträchtige Boden rund um das Vereinslokal der „Alten
Säcke“ in der Schwendergasse zu Wien-Fünfhaus, auf welchem der erste Christbaum in Wien
wahrscheinlich stand. Der älteste Beleg über einen Christbaum in Wien stammt aus dem Jahre
1814, als der Baron Arnstein ein Weihnachtsfest nach „Berliner Sitte“ – also mit einem
Christbaum – feierte, obwohl die Gattin Erzherzog Karls, Henriette von Nassau, die ihren
Christbaum in Wien erstmals 1816 aufstellte, bei uns als die „Christkindlbringerin“ gilt. Aber
lassen wir die Geschichte, wenden wir uns der unerbittlichen Gegenwart zu.
Alle Jahre wieder – um bei der merkantilen Seite dieser Abhandlung zu bleiben – werden vor
Weihnachten an geplagte Hausfrauen und Mütter als sinniges Weihnachtsgeschenk „Turbo-
Klopf- und Schlürf-Sauger“ verkauft, die – laut Beschreibung – nach Weihnachten die
Tannen- oder Fichtennadeln der Weihnachtsbäume aus den textilen Bodenbelägen wieder
hervorbringen. Eine geradezu lächerliche Behauptung.
Eine gesetzliche Handhabe gegen irreführende Produktbeschreibungen ist hier angesagt!
Wer je versucht hat, Christbaumnadeln aus einem Teppichboden aus Berberschlinge zu
entfernen, wird wissen, wovon ich rede. Es war die Rache von Bruder Baum, wenn ich am
Dreikönigstag nackend aus der Dusche ins wohltemperierte Wohnzimmer lief und mir in
Sekundenbruchteilen drei trockene Fichtennadeln aus dem Teppichboden in die Fußsohlen
rammte, und zwar im Fußgewölbe, wo die Haut am dünnsten ist.
Eine christliche Unterdrückung unflätiger Flüche ist hier angesagt.
Das Nadelproblem der Christbäume begleitete mich seit meiner Kindheit. Mit einer Mutter
gesegnet, von deren wohnungseigenen Fußböden, man getrost jegliche Mahlzeit ohne Teller
hätte einnehmen können – und zwar wirklich in jedem Raum, war es um Neujahr herum für
sie Tradition, selbst aus den schmalen Ritzen des Parkettbodens mit Hilfe zweckentfremdeter
Zahnstocher jede Nadel einzeln auf dem Boden knieend und von konvulsivischen
Heulattacken geschüttelt zu entfernen.
Das Misstrauen in den Weihnachtsbaum blieb, später bestärkt durch die vordem erwähnte
eigene Erfahrung, hatte der Lichterbaum nach Erreichen des Disco-Alters meiner Sprösslinge
Hausverbot.
Ein Gefühl unbehelligten, inneren Friedens und Konsumverzichts war hier angesagt.