Page 11 - ARTEMIS_Nr.9 (Weihnachten 2021)
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In die Jahre gekommen, wächst die unsägliche Neigung zur Sentimentalität, und so war es
nicht wunder, dass meine Frau eines Herbsttages beiläufig meinte, man könnte doch heuer
wieder einmal einen Christbaum zu Weihnachten aufstellen, vielleicht kommen die
inzwischen erwachsenen Söhne vorbei, und die würden eine Kindheitserinnerung
möglicherweise zu schätzen wissen... Wie dem auch sei, meine Christbaum-freien Jahre
waren in Gefahr.
Hilfe kam unvermutet von der Schwiegermutter, der wirklich besten dieser Sorte, durch ihr
Bekenntnis, dass sie seit einigen Jahren einen synthetischen Weihnachtsbaum – ein
Sonderangebot einer großen Kaffeehandelskette – ihr Eigen nannte. Ein kleines Bäumchen,
kaum größer als ein Meter, in drei Teilen praktisch zum Zusammenstecken – und alljährlich
verwendbar! Nun, der Bann war gebrochen. Der schwiegermütterliche Hinweis auf eine sehr
naturnahe Konstruktion der Kunststofftanne tat noch ein Übriges.
Eine elektrisierte Erinnerung an den Produktlebenszyklus des Weihnachtsbaumes ist hier
angesagt.
Den ersten – sagen wir „Prototyp“ – der Kunststoffbäume ergatterte ich in einem Tiefst-Preis-
Geschäft, das auch noch Barbie-Puppen und Kunststoffautos verhökerte, offensichtlich ein
Lieferant der Taiwanesischen Kunststoffindustrie. Klein verpackt, mit Produkt-Foto
obendrauf und der Verheißung garantierter Natürlichkeit, versprach es auch noch ein
Umtauschrecht. Und das zu einem Preis zu dem ich bestenfalls am Heiligen Abend um vier
Uhr Nachmittags nur ein klobesenähnliches Nadelgehölz für einen Zwei-Tage-Einsatz
erstehen hätte können.
Lag es daran, dass in Taiwan Tannen anders aussehen oder daran, dass man bei der
Entwicklung des Baumes gespart hat und auf europäische Vorbilder aus der Natur verzichtet
hat, das Bäumchen sah beim Probebetrieb etwa so aus wie das Gerippe eines Regenschirms,
auf welches man giftgrüne Plastikflocken aufgedampft hatte. Meine Frau bemerkte trocken,
dass das Beste an dem Bäumchen das Umtauschrecht sei – und das wurde auch raschest
genutzt.
Die Feststellung, hier kein Werbepamphlet für Christbaumhändler abzudrucken, ist
schleunigst angesagt.
Inzwischen nahte der Spätherbst und damit das aggressive Weihnachtsgeschäft.
Schon schien das Unternehmen „Plastikbaum“ ins Wanken zu geraten, weil „Jingle-Bells“
singende Plastikstauden mit Sonnenbrillen meiner Frau doch nicht die rechte
Weihnachtsstimmung schenken wollten. Da tauchte ein Silberstreif am Horizont des
synthetischen Heiligen Abends auf. In einem großen Konsumtempel wurde eine Woche vor
Weihnachten wieder ein fernöstliches Modell angeboten: Stamm aus Metall, in drei
Segmenten, Äste stabil an den Segmenten verschweißt, und über und über mit schönen
dunkelgrünen Nadeln umwickelt, die nicht stachelig waren, aber relativ echt aussahen. Ein
passender Standfuß für die künstliche China-Tanne war im Preis inbegriffen.
Eine stille kleine Anerkennung für fernöstliches Industriedesign ist hier angesagt.
Am Festtag selbst erstrahlte unser Christbaum mit elektrischer Lichterkette, bunten
Glaskugeln und Lametta wie ein wirklicher Christbaum. Es war überwältigend. Unnütz zu
erwähnen, dass keiner der Söhne seine Aufwartung machte, und daher der ganze Zirkus um
echte oder künstliche Christbäume verzichtbar gewesen wäre.