Page 65 - Taschenbuch Michel Grassart, Abbè Pierre die Wahrheit...
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ich dauernd Brot holen musste, dachte ich mir eine Stra-
          tegie aus, um an diese wundervolle Patisserie und an die
          Fruchttörtchen ranzukommen. Mir fiel auf, dass die Bä-
          ckersfrau  recht  alt  war,  oft  wie  in  Zeitlupentempo  das
          gewünschte  Brot  holte.  Da  schnappte  ich  mir  ein  paar
          Süßigkeiten und stopfte sie unter meinen Pullover oder
          mein T-Shirt. Nach ein paar Mal fragte der Bäcker immer
          wieder: Frau, hast du Patisserien verkauft? Aber sie ver-
          neinte und erklärte ihm: Das musst doch du wissen, was
          du bäckst; doch mir kommt es auch so vor, als wäre vor-
          her mehr im Regal gewesen. Von da an musste ich auf
          der Hut sein. Aber es gab auch da eine Lösung: Ich be-
          zahlte  mit  Kindergeld  und  kaufte  reichlich  ein  bei  der
          Bäckersfrau,  denn  sowas  kannten  sie  nicht  in  dieser
          wohlhabenden Gemeinde und mein Bruder und ich ver-
          schlangen die Süßigkeiten im Nu, das war niemals böse
          gedacht,  aber  uns  holte  oft  die  Vergangenheit  ein  mit
          dem  Thema  Hunger,  auf  jede  erdenkliche  Art.  Das  gab
          wieder  eine  Reklamation  bei  meinen  Pflegeeltern,  und
          kurz darauf wurde ich auch in flagranti erwischt, als ich
          Fruchttörtchen  geklaut  hatte.  Da  entdeckten  wir,  dass
          der Milchmann auch Schokolade und sonstige Süßigkei-
          ten hatte. Also bestellte ich zuerst Käse, dann noch ande-
          re  Produkte,  am  Schluss  noch  Milch.  Dafür  musste  der
          Milchmann in einen anderen Raum, und wir hatten dann
          genug Zeit, sehr professionell Käse abzuschneiden. Dann
          schlichen wir uns davon und verzehrten genussvoll den
          Käse. Sein Kommentar war dann, wollt Ihr keine Milch,
          plötzlich ein Gejammer, wer hat den Käse so behandelt!
          Von dem Moment an waren Süßigkeiten nicht mehr rele-
          vant.  Zu  Hause  hieß  es  einfach:  Bitte  unterlasst  das  in
          Zukunft, der Käser ist sehr enttäuscht von euch. Wir hat-



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