Page 188 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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       Fall aber darf man in einem so unfertigen Seelenleben wie dem des
       etwa elfmonatigen Kindes ein  freies Vorstellen gemeinsamer Merk-
       male annehmen, der Fall Sigismund's verräth nichts davon.
           Die geistige Leistung, welche wir also annehmen müssen, damit
       ein Sprachverständniss zu Stande kommt, wie   es  sich bei der Be-
       obachtung von Sigismund zeigt, ist höchstens ein Unterscheiden und
       ein Wiedererkennen und    die  Association  und Reproduction  auf-
       suchender Bewegungen mit ähnlichen Objecten, jedenfalls aber keine
       freie Reproduction der wiedererkannten Objecte oder gar die Analyse
       des wahrgenommenen Eindrucks und      die Abstraction von »Merk-
       malen«   aus  ihrem Wahrnehmungszusammenhang,      beziehungsweise
       deren begriffliche Zusammenfassung.
           Gegen das Ende des ersten Lebensjahres, oft aber erst beträcht-
       lich später bemerken wir eine zweite Art des Sprachverständ-
       nisses, die wegen ihrer Wichtigkeit für die spätere Sprachentwicklung
       eine genauere Betrachtung verdient.  Sie kommt zur Ausbildung auf
       Grund jener zahlreichen Spielereien, welche die Kinderwärterinnen,
       die Mütter und Schwestern mit dem kleinen Kinde ausüben und die
       man   vielleicht mit dem Namen einer Dressur oder Abrichtung zu
       bestimmten Bewegungen bezeichnen   darf.  Das Kind lernt auf   die
       Aufforderung der Erwachsenen hin allerhand Bewegungen ausführen,
        die den  Charakter von  bezeichnenden Bewegungen,    symbolischen
        Gebärden und   dergl.  mehr  haben,  wie:  Das Händchen    geben,
        das  Bitte-bitte-machen,  das Danke  sagen,  das  »Kuchen  backen«
        (Lindner)  u.  s. w.  Das Kind  lernt  ferner  das Abbeißen lassen,
        Schmecken lassen (vom Brezel u. s. w.).  Diesen Gebärden verwandt,
        aber nicht ganz gleichartig mit ihnen sind gewisse Aufforderungen
        der Erwachsenen, die das Kind bald verstehen lernt, wie das »gib«,
        »komm«,  »zeig«,  »sieh«,  »sieh da«,  »da«,  u.  s. w.  Ferner lernt es
        sehr bald Fragen verstehen wie diese: »Wo ist?« »Wie schmeckt's?«
        >Wie macht man das?«   u.  s. w.  Oder es lernt auf die Frage: »Wie
        groß  ist das Kind?«  die Hand bis an den Kopf zu erheben.    Die
        Kinderwärterin  spricht dazu:  »so groß«.  Das Kind begleitet diese
        Worte vielfach durch Lalllaute oder Krähen und Jauchzen, wodurch
        es sein großes Interesse an solchen Versuchen bekundet (Lindner,
        Preyer, Taine, Tracy      u.  a.).  Fast  alle  diese Dressurversuche
        sind dazu bestimmt, dem Kinde Gebärden verschiedenen Charakters
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