Page 192 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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jgQ                        E. Meumann.

       Bewegung   des  » Kuchenbackens «  beigebracht  worden.  Anfangs
       wurde  diese nur auf Befehl und »Vormachen«    hin ausgeführt;  in
       der 46. Woche  trat die Bewegung auf die bloße Aufforderung hin
       ein, und zwar auch dann, wenn bloß      die "Worte  »backe«  oder
       »Kuchen« dem Kinde zugerufen wurden.     Noch wichtiger  ist nun,
       dass  diese Art mechanischer Auslösung von Bewegungen durch
       den bloßen Lautcharakter oder den Tonfall der Worte des
      Erwachsenen   sehr  lange Zeit    andauert.    Sie  zeigte  sich  bei
       Lindner's Knaben noch im    16. Monat!   Das Kind hatte   gelernt,
       auf die Aufforderung:  »Hole Butter«  die Butter  herbeizubringen.
       Eines Tages  schälte ihm der Vater  eine Birne und sprach dazu:
       »Das  ist eine Napoleonsbutterbirne«.  Sogleich lief das Kind  fort,
       um die Butter zu holen (vergleiche den ähnlichen Fall mit Peitschen-
       knallen Lindner Seite 32).  Man  sieht  also,  dass das 1 Jahr und
       4 Monate  alte KJind,  das  damals  schon  vereinzelte Anfänge des
       spontanen Sprechens  zeigte, immer noch der associativ-suggestiven
       Auslösung  der Bewegungen durch Worte      unterliegt.  Noch  lehr-
       reicher  ist ein Experiment,  das mir Herr Professor Tapp ölet in
       Zürich mittheilte.  Im 6.— 8. Monat beobachtete er bei einem seiner
       Kinder, dass  es auf die Frage: »Wo   ist das Fenster?«  unsichere
       aufsuchende Bewegungen    nach dem   Fenster  machte.  Als  diese
       Versuche einigermaßen gelangen, ersetzte der Vater sie durch Auf-
       forderung  in französischer Sprache,  bei welchen nur ungefähr der
       gleiche Tonfall eingehalten wurde wie bei den früheren deutschen
       Worten (»oü est la fenetre?«).  Nunmehr führte das Kind die wieder-
       erkennenden Bewegungen ziemlich mit derselben Sicherheit aus wie
       vorher.  In diesem Fall muss also immer der bloße Tonfall aus-
       lösend  auf  jene Bewegungen  wirken und von einem Wortver-
       ständniss kann gar keine Rede       sein.  Man  sieht zugleich aus
       solchen Beobachtungen,  dass  wir uns  das  Sprachverständniss  des
       Kindes gegen das Ende des ersten Lebensjahres fast nicht primitiv
       genug denken können.       Immerhin  bilden  diese Reactionen  des
       Kindes  auf die Aufforderungen der Erwachsenen die Basis,     auf
       der sich ein vollkommeneres Sprachverständniss  entwickelt.  Solche
       Versuche nehmen, wie ich schon sagte, an der allgemeinen geistigen
       Entwicklung des Kindes   theil.  Allmählich scheinen Vorstellungen
       von den Gebärden und    ihrer Bedeutung, ebenso Vorstellungen von
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