Page 194 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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E. Meumann.
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          Irgend welche Anzeichen von einem Sprachverständniss höherer
       Art haben wir vor dem Beginn des spontanen Sprechens der Kinder
              Wenn manche Beobachter aus der Zeit des zwölften Monates
       nicht.
      von solchen Anzeichen berichten, so muss man bedenken, dass damit
       fast immer auch  schon  das  active Sprechen  des Kindes  beginnt.
      Von   allen  jenen Leistungen,  die Erdmann    auf  der  Stufe  des
      bloßen Sprachverständnisses annimmt: Abstraction der   constanten,
      gleichen Merkmale oder das Yerständniss für Eigenschaften und Be-
      ziehungen  der Dinge  oder  gar  die Zusammenfassung von Eigen-
      schaften durch logische Synthese des Zusammengehörigen, findet sich
      vor dem Eintritt der Sprache keine Spur.



       3. Die erste Stufe des activen Sprechens : Die emotionell-volitionale
                  Sprachstufe oder Stufe der Wunschwörter.

          Wie weit das Kind davon entfernt ist, bei den ersten Anfängen
       des eignen Sprechens Wort- und Sachvorstellungen zu associiren, das
       zeigt jeder Blick auf  die vorliegenden Beobachtungen, noch mehr
       jede Beobachtung des Kindes selbst. Um es kurz zu sagen: Sowohl
       die Art, wie das Kind sich anfangs in Wörtern ausdrückt, als auch
       die Art der Verwendung seiner Wörter beweist, dass alle seine ersten
       Wörter Wunschwörter sind.   Sie bezeichnen Wünsche, Begehrungen,
       »etwas haben wollen« oder nicht wollen, Abneigungen oder Neigungen
       und  gemüthliche Erregungen  jeder Art.   Sie  steigern  sich  nicht
       selten zu einer wirklichen Affectsprache und sind dann in der Regel
       schon Bezeichnungen von einem etwas höheren, grammatischen oder
       lautlichen Typus, das heißt: Im Affect spricht das Kind nicht selten
       besser als bei indifferenter Gemüthslage.  Damit  ist aber femer ge-
       sagt, dass die ersten Wörter des Kündes lange Zeit hindurch nicht
       eigentlich gegenständliche Bezeichnungen sind; das Kind bezeichnet
       anfangs überhaupt keine Gegenstände oder Vorgänge der Umgebung,
       sondern die emotionelle oder volitionale Seite dieser Gegenstände,
       ihre Beziehung zu seinem Begehren und Wünschen, seiner Lust und
       Unlust.  Es  erweckt  dabei  häufig den Schein,  die Gegenstände
       selbst zu benennen,  es  spricht vielleicht ^tuU (Stuhl),  es will aber
       keine Benennung des Objects Stuhl ausführen, sondern es will sagen:
       Ich  will auf dem Stuhle sitzen,  reich' mir den Stuhl u.  s. w., oder
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