Page 195 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.  183
       das vielgebrauchte Wort *huta< (Hut) heißt: »Ich will den Hut auf-
       setzen«; selbst die Wörter Papa und Mama sind anfangs, wenn sie
       überhaupt auf  die betreffenden Personen angewendet werden,    ein
       Ausdruck der Freude über den Anblick oder     die Annäherung der
       Personen bezw. ein Ausdruck des Bedauerns über ihre Entfernung,
       nicht eine eigentliche Benennung derselben. Es entspricht dies durch-
       aus dem Ueberwiegen des Grefühlslebens über den Intellect und die
       intellectuelle Analyse der Wahmelimungsobjecte,  die das gesammte
       Seelenleben des Kindes in der ersten Zeit auszeichnet.  Diese That-
       sache ist nun für die Auffassung der ersten Worte des Kindes sehr
       wichtig,  sie  ermöglicht  es,  eine Menge falscher Vorstellungen von
       dem begiifflichen logischen Charakter der ersten gesprochenen Worte
       zu beseitigen und manches andere scheinbar sehr schwierige Problem
       der ersten kindhchen Sprache auf die einfachste Weise zu lösen.
          Der Beweis dafür, dass aller intellectuellen Verwendung der Worte
       diese emotionell-volitionale Sprachstufe vorausgeht, lässt sich auf die
       mannigfaltigste Weise  führen.  Ich erbringe ihn erstens aus der
       Analyse  einzelner  besonders  charakteristischen Wortverwendungen
       des Kindes,  zweitens   aus  der  Beschaffenheit  seines gesammten
                       drittens  aus dem grammatischen und     lautlichen
       Vocabulariums ,
       Charakter seiner ersten Wortverbindungen.
          Nehmen wir zunächst einzelne charakteristische Beispiele der ersten
                                      Sehr deutlich tritt der reine Wunsch-
       Wortverwendimgen des Kindes !
       charakter bei den ersten Lallworten hervor.  H. Grutzmann (Des
       Kindes Sprache und Sprachfehler   S. 23)  berichtet:  »so  gebraucht
       mein einjähriges Töchterchen, das gern Gehversuche macht, das Wort
       kea? (= ja) in fragendem Tone, um vom Aime oder aus dem Kinder-
       stuhle genonmien zu werden, um an die Erde zu konmien.   Dagegen
       lautet  es sehr entschieden heaf auf  die Frage, ob  es Milch haben
       will.  AehnHche Wörter sind aüff run! (= runter)    u.  s. w.  Das
       eine Wort >Puppa< kann bedeuten: Gebt mir      die Puppe — wie
       schön  ist die Puppe — sieh, meine Puppe u.  s. w. je nach dem Aus
       druck, der im Ton liegt und nach der begleitenden Gebärde«.  Alle
       diese Wörter sind Wunschwörter,   sie  »bezeichnen«  nicht »Gegen-
       stände«, sondern dienen dem Ausdruck der kindlichen Wünsche
       und Begehrungen.   Ein Kind,  das ich beobachtete (W.  St.), sprach
       im zwölften Monat   nui- wenige Lalllaute, darunter eine Lautcom-
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