Page 197 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 197

Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.  185
     wort allmälilicli durch häufige Wiederholungen zum allgemeinen Aus-
     druck des "Wunsches   wird.  Hierbei wirken zwei Umstände unter-
     stützend mit.  Die Wortannuth des Kindes bedingt, dass   es immer
     dasselbe Wunschwort vei^wendet, also allmählich auch andere Gegen-
     stände als Kopfbedeckungen und Deckel mit diesem Worte begehrt.
     Dadurch verblasst dann die Erinnerung an die specielleren Wunsch-
     objecte, die anfangs mit huta bezeichnet wui'den.  Das Gremeinsame
     (der Aehnlichkeitscharakter) der einzelnen Wünsche zusammen mit
     der Wortannuth    bewirkt  dann,  dass  das  speciellere Wunschwort
     allmählich auf andre verwandte Wünsche associativ übertragen wird,
      und  so wird das  speciellere Wunschwort zum allgemeinen.  Andre
     Beispiele machen den Wunschcharakter der ersten Worte des Kindes
     noch  deutlicher,  insbesondere  erläutern  sie  recht  drastisch,  dass
     gerade durch die Nichtbeachtung dieses Wunschcharakters der Schein
     logischer Allgemeinheit  der  kindlichen Wortbedeutungen entstehen
     muss.   Preyer berichtet von einem Kinde, das an seinem Geburts-
      tage das verstümmelte Wort   »bui'tsa*  erlernte; von da an wurde
      hurtsa die allgemeine Bezeichnung für alles, was ihm Freude machte
      (Preyer  S. 338).  Scheinbar werden hier mit burtsa  die  allerver-
      schiedensten Dinge bezeichnet.  In Wahrheit  gilt  die Bezeichnung
      immer demselben inneren Erlebniss, der gleichen emotionellen Stellung-
      nahme des Kindes zu den verschiedenen Gegenständen: dem Aus-
      druck der Freude über irgend etwas, das seinen kindlichen Geist
      interessii-t.  Lindner 's Knabe begann sein Sprechen unter anderem
      mit dem Lallworte »dada*  (dat),  Dada hieß Vater, Mutter, Kinder-
      wärterin, Schwester, aber auch die Milchflasche,  endlich jeder auf-
      fallende Gegenstand überhaupt. Dem Anscheine nach Hegt hier also
      ein Begriff von sehr gi'oßem Umfange oder   ein Wort von großer
      Allgemeinheit vor.  Li Wahrheit  ist dada nichts  als  ein lautlicher
      Ersatz  füi' eine hinweisende Gebärde.  Er drückt das Erlebniss aus:
      Dieses oder jenes interessirt mich, das macht mir Freude, das fesselt
      meine Aufmerksamkeit.    Lindner 's Mädchen     erhielt  ein Stück
      Apfel und erlernte dabei das Wort ^appiu. Von nun an wurde das
      Wort *appn<^ spontan gebraucht zm* Begehrung jedes essbaren Gegen-
      standes,  endlich zur Bezeichnung des Appetits oder Hungers über-
      haupt. Dem Anscheine nach    liegt hier wiedenim eine »Wortverall-
      gemeinei-ung« vor (Ament), eine Vei-^sendung des gleichen Wortes




 k
   192   193   194   195   196   197   198   199   200   201   202