Page 202 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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19Q E. Meumann.
Man sieht hieraus, dass die allgemeine geistige Entwicklung des Kindes
um die "Wende des ersten Lebensjahres uns von vornherein vermuthen
lässt, dass Wunsch- und Begehrungsworte anfangs über die gegen-
ständlichen Bezeichnungen absolut überwiegen müssen.
Ich habe auf diesen Nachweis des emotionell-volitionalen Charak-
ters der ersten kindlichen Wortbedeutungen so großen Werth gelegt,
weil er das beste Mittel ist, um eine Menge falscher Vorstellungen
abzuweisen. Vor allem verschwindet die immer wieder behauptete
logisch-begriffliche »Allgemeinheit« der ersten Worte des Kindes. Es
ist bloßer Schein, dass die kindlichen Worte von »unbestimmter All-
gemeinheit« oder großer »Allgemeinheit des Umfangs sind« (Preyer,
Lindner, Compayre, Taine u. a.), dass sie auf kühnen Abstrac-
tionen constanter oder gleicher Merkmale beruhen (Erdmann), ebenso
aber, dass sie »unberechtigte Wortverallgemeinerungen« sind (Ament).
Der Erwachsene, der nicht weiß, was das Kind eigentlich bezeichnet,
der seine Namengebung fälschlich auf die differenten Dinge bezieht,
statt auf den gleichen Wunsch oder Affect, muss durch diesen Schein
getäuscht werden.
Man muss sich nun vor allem die Folgerungen klar machen,
die unsre veränderte Auffassung der ersten Anfänge der Kinder-
sprache mit sich bringt. Es fallen damit nicht nur die logischen
und psychologischen Leistungen hinweg, die als Träger der Begriffs-
bildung dienen, sondern man kann auch einige gewagte Analogien
zwischen der KJindersprache und der allgemeinen Sprachentwicklung
der Menschheit abweisen.
Es kommt nicht selten vor, dass Kinder auf der ersten Sprach-
stufe (aber auch noch bedeutend später, wenn sie schon im Besitz
eines ansehnlichen Wortmaterials sind), Dinge oder Eigenschaften oder
Vorgänge oder Beziehungen mit demselben Worte bezeichnen, die
für den Erwachsenen Gegensätze oder große qualitative Unterschiede
darstellen. Namentlich logische Correlate, aber auch qualitative
Gegensätze der Empfindungen (wie warm und kalt) werden scheinbar
mit demselben Worte bezeichnet, wobei das Kind sicherlich die Ver-
schiedenheit der beiden Wortbedeutungen erkennt. Tracy (S. 117)
berichtet von einem Kinde, das das Wort ot (verstümmelt aus hot^
heiß) für zu heißes Wasser kennen gelernt hatte; von da an be-
zeichnete es auch das zu kalte Wasser mit »o^«. Tracy nimmt in