Page 204 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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E. Meumann.
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                4. Die Intellectualisiruiig der emotionellen Sprache.
            Ich bezeichnete bisher  die  erste Sprachstufe des spontan  spre-
         chenden Kindes  als  die  emotionell-volitionale Sprache: Das Kind
         bezeichnet nicht Gegenstände, Vorgänge, Personen, Eigenschaften,
         Beziehungen, sondern ausschließlich oder vorwiegend deren Bezieh-
         ungen zu seinem Grefühls- und Willensleben.
            Der nächste Fortschritt besteht nun darin, dass der Glefühls-
         charakter der ersten Worte sich allmählich verliert.  Er tritt zurück
         gegen  die mehr  gegenständliche Bezeichnung  dessen,  was  wahr-
         genommen wird.  Damit wird die Sprache einem Intellectualisirungs-
         process unterworfen: An Stelle des emotionellen und activen Sinnes
         der Worte tritt eine mehr gegenständliche und intellectuelle Bedeutung.
         Anfangs heißt  z. B.  >tuhl«  ich möchte auf dem Stuhl sitzen, »door«
         ich  will  die Thür aufmachen oder zumachen,   später wird  es zur
         Bezeichnung der Gegenstände Stuhl und Thür.
            Mit  dieser Intellectualisirung  der Sprache wird dann  erst eine
         Vorbedingung  zur  logischen Verarbeitung  der Wortbedeutung ge-
         schaffen,  die  aber, wie  wir  sogleich  sehen werden, noch  längere
         Zeit durch eine niedrigere Stufe der  intellectuellen Wortbedeutung
         aufgehalten wird.  Erst nachdem  diese Intellectualisirung und Ver-
         gegenständlichung der Wortbedeutungen eingetreten  ist, beginnt auch
         die Wahrnehmung des Kindes    sich genauer mit den Gegenständen
         als solchen zu beschäftigen.  Es ist natürlich anfangs ein Hinderniss
         für  die genauere Analyse der Dinge und Vorgänge der Umgebung,
         wenn sie bloß nach ihrer Gefühlsseite beachtet und benannt werden,
         erst in dem Maße, als diese Art der Reaction auf den Anblick der
         Dinge und Personen   zurücktritt, wird das Ding  selbst mit seinen
         rein den Intellect ansprechenden Eigenschaften Gegenstand der Auf-
         merksamkeit.  Man muss ausdrücklich bemerken,   dass  die Processe
         der Sprachbildung sich bei keinem Kinde so bestimmt von einander
         trennen,  dass nicht auch schon von Anfang an  einzelne Worte  als
         wirkliche Benennungen der Gegenstände oder Personen vorhanden
         wären.  Dies ist schon einfach dadurch bedingt, dass der Erwachsene
         in gewissem Maße dem Kinde     seine eigenen Wortbedeutungen auf-
         nöthigt.  Der unmittelbare Erfolg dieser Intellectualisirung der Wort-
         bedeutung ist aber keineswegs ein großer. Alle ersten Wortbedeutungen
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