Page 189 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Entstehung der ersten Wortbedeutungen beim Kinde.  177

      ZU entlocken,  die  tlieils  die Freude des Kindes ausdrücken  sollen,
      theils Nachahmungen  conventioneller G-esten der Erwachsenen sind,
      theils auch Hinweisungen,  ein Zeigen und Bezeichnen von Dingen
      und Personen.
         Wie  sind  diese Dressurversuche und jene Aufforderungen
      und Fragen, wie ich sie kurz bezeichnen will, zu deuten?  Anfangs
      sind  sie  jedenfalls  nichts  anderes  als Associationen zwischen den
      auffordernden Worten   der  erwachsenen Personen und bestimmten
     Bewegungen,    die  dem Kinde   sogar durch Vormachen,       durch
      Führung  der Hand und des Armes eingeübt werden.       Aber sie
      sind das nur    eine Zeit  lang.   Sie nehmen   bald  einen etwas
     höhern Typus an: Das Kind lernt an ihnen außerordentlich vieles,
      das  für  sein  geistiges Leben im allgemeinen und für sein späteres
      Sprechen von größter Bedeutung   ist.  Jene Abrichtungen bleiben
      nämlich nicht eine bloße Dressur;  sie nehmen an dem allgemeinen
     geistigen Fortschritt  des Kindes  sehr bald Antheil.  Es  lernt an
      ihnen zuerst Theil zu nehmen an dem Gemüths- und Willensleben
      der Erwachsenen,  es  lernt  unterscheiden, was Wunsch und Auf-
      forderung des Erwachsenen  ist, im Unterschiede von der bloßen Be-
      nennung.   Der Erwachsene    wirkt  seinerseits  beständig  auf  den
      Willen und die Gefühle des Kindes mit solchen spielenden Beschäf-
      tigungen ein.  Das KJind wird durch sie bald beruhigt, bald erzürnt,
      es wird bald zu sympathischen Gefühlen und Handlungen veranlasst
      (das Schmeckenlassen), bald wird sein Eigensinn und sein Egoismus
      gereizt, mit einem Worte: es bildet sich durch jene Aufforderungen
      und Abrichtungen außer dem associativ-intellectuellen auch
      ein emotionelles und volitionales Sprachverständniss aus,
      und dieses letztere ist, wie wir sogleich sehen werden, dem kindlichen
      Geistesleben viel adäquater   als das associativ-intellectuelle.  Das
      Kind fasst wahrscheinlich alle Worte der Erwachsenen zunächst als
      Einwirkungen auf sein Gemüths- und Willensleben auf; ihre intel-
      lectuelle Bedeutung bleibt ihm lange Zeit sehr verschlossen oder sie
      tritt wenigstens gegen  die emotionelle ganz zurück.  Aber das  ist
      nur die eine Seite der Versuche.  Sie haben außerdem die wichtige
      Bedeutung,  dem   Kinde  jene  vorher  erwähnten  Functionen  der
      Sprache verständlich zu machen^  dass  die Sprache der Aeußerung,
      der Mittheilung und der Bezeichnung dient.  Unter diesen Functionen
        Wundt, PMlos. Studien. XX.                         12
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