Page 224 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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E. Meiunann.
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       Schall der Klingel reproducirt die Erinnerung und den Namen.  Die
       übrigen Schlüsse Ament's stehen auf gleicher Stufe wie die bisher
       erwähnten.  Noch weniger kritisch  ist Lindner, der Schlussfolge-
      rungen  findet, wo  nicht  ein Schatten  davon vorhanden  ist.  Als
      typisches Beispiel möge das folgende dienen (S. 19) : In der 42. Woche
      (noch vor Beginn der Sprache) erwartete das Kind sein Essen.  Als
      die Mutter noch einmal aus dem Zimmer ging, fing es an zu weinen,
      beruhigte  sich  aber,  als  sie  wiederkam.  »Offenbar  lag  seinem
      Weinen keinerlei  physische Veranlassung  zu Grunde,  sondern  die
      Schlussfolgerung: Wenn  die Mama hinausgeht, musst du auf dein
      Essen warten u.  s. w.«  Offenbar liegt hier sehr wohl eine physische
      Veranlassung für das Weinen vor, nämlich der Hunger des Kindes,
      dazu kommt als psychische Veranlassung, dass sich mit dem Anblick
      des Essens und der Mutter   die Erwartung der Hungerstillung asso-
      ciirt hat.  Indem das eine Glied der Association verschwindet, wird
      die Erwartung enttäuscht.  Eben so wenig ist in dem Beispiel S. 33
      ein Causalschluss vorhanden.  Vielfach erweckt auch die geschickte
      Verwerthung von Erfahrungen (genau wie bei Thieren) den Anschein
      einer Schlussfolgerung.  Dahin gehören die Beispiele S. 35 und 54,
      ebenso  die Beobachtungen von Egger    (S. 41).  Es  ist bemerkens-
      werth, dass derselbe Lindner  mittheilt,  dass  die Kinder erst sehr
      viel später eine dunkle Ahnung von dem bekommen, was Grund und
      Begründungen   sind.  Derselbe Knabe,  der schon in der 42. Woche
      vor dem Eintritt der Sprache Schlüsse machen    soll,  soll  erst im
      26. Monat zum ersten Mal zur Bezeichnung eines Grundes im Stande
      sein.  Die Mittheilung Sully's über kindliche Schlussfolgerungen (An-
      merkung S. 61 bei Lindner) kann man nur als Beispiel mangelhafter
      logischer Bildung eines englischen Philosophen bezeichnen.
         Ich kann mich im Zusammenhang meiner Ausführung mit diesen
      negativen Argumenten begnügen.  Jeder Schullehrer weiß, wie schwer
      sich die Kinder von acht Jahren und darüber zu Schlussfolgerungen
      (natürlich zu enthymematischen) entschließen und wie unsicher sie in
      dem Verständniss  der  einfachsten  Schlussfolgerungen  sind.  Nach
      meiner Beobachtung entwickelt sich die Thätigkeit des syllogistischen
      Schließens überhaupt erst an der Hand bestimmter Unterrichtszweige,
      wie  der reinen und angewandten Mathematik und gewisser höherer
      Rechnungsarten.  Das gilt speciell von der Deduction (während die
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