Page 258 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griechischen
Skepticismus.
Von
Raoul Richter.
Leipzig.
Die philosophische Zweifelslehre kann in doppelter Beziehung zum
Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchung gemacht werden: als rein
begriffliches System (soweit der Ausdruck System hier gestattet ist),
unbekümmert um die geschichtHch aufgetretenen Gestaltungen des-
selben und deren individuelle Eigenthümlichkeiten, oder aber in ihrer
historischen Bestimmtheit und mit ihren thatsächlich in der Geschichte
dagewesenen Formen. "Wenn die vorliegende Studie den zweiten Ge-
sichtspunkt erwählt, so leitet sie dabei nicht ein rein historisches
Interesse, sondern die Ueberzeugung, dass der Philosoph in der Ge-
schichte seiner Wissenschaft eines der wichtigsten Hülfsmittel zum
Verständniss der philosophischen Probleme besitzt^). Aber nicht der
ganzen Geschichte der skeptischen Philosophie, nur einem kleinen
Ausschnitt derselben gilt an dieser Stelle unsere Theilnahme. Der
antike Skepticismus eines Pyrrho, Aenesidem, Sextus will für
einige Augenbhcke die Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen. Wer
1) Wundt, lieber naiven und kritischen Realismus I. (Philos. Stud. Xu,
S. 317): »Der richtige Weg (zur Auffindung der Erkenntnissprincipien) ist daher
nicht der, dass sich der Philosoph auf sein eigenes Bewusstsein zurückzieht, son-
dern der, dass er die Arbeit menschlichen Denkens, die ihm die "Wissenschaft zur
Verfügung stellt, zur Grundlage seiner Selbstbesinnung nimmt. Wenn es nim
einmal nicht anders geht, als dass man die meisten Dinge nur von einer ge-
wissen Feme aus in Augenschein nehmen kann, so soll wenigstens der gewählte
Standpunkt lieber die Vogel- als die Maulwurfsperspective sein.«