Page 260 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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248                       Raoul Richter.

       Voraussetzung und Inhalt der skeptischen Philosophie deshalb so außer-
       ordentiich lehrreich,  weil es ein sonderbares — Missverhältniss  ist.
       Diese skeptische Philosophie ist ihrem Inhalt nach das Aeußerste an
       erkenntnisstheoretischer Kritik, was das Alterthum geleistet hat;  in
       ihren Voraussetzungen aber bleibt  sie auf einer Stufe der Naivität
       stehen, welche schon zu Pyrrho's Zeiten von dem wissenschaftlichen
       Bewusstsein zum Theil überschritten war. Dieser befremdenden Eigen-
       thümlichkeit wegen dürfte es vielleicht angebracht sein, die erkennt-
       nisstheoretischen   Voraussetzungen      der  antiken   Skepsis
       etwas näher zu prüfen.

                                      I.
          In zwei großen Strömungen   tritt der Skepticismus  in Griechen-
       land auf;  die  eine  leitet  sich von Pyrrho ab, verschwindet etwa
       nach drei Generationen,  belebt sich aber nach einer Pause von un-
       gefähr hundert Jahren wieder um den Anfang der christHchen Zeit-
       rechnung 1) und reicht bis ins dritte Jahrhundert nach Christus herab.
       Die andere skeptische Strömung entspringt innerhalb der Academie
       und ihre Blüthe schiebt sich in die große Pause nach dem älteren
       Pyrrhonismus ein; dann erlischt sie und gibt die Herrschaft an den
       jüngeren Pyrrhonismus ab.  Wir wollen nun, um unser Thema dem
       verfügbaren Raum gemäß zu beschränken, unsere Aufmerksamkeit
       nur den erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des Pyrrhonismus
       zuwenden.
          Die Lehren der einzelnen Skeptiker dieser Richtung, eines Pyrrho,
       Timon, Aenesidem, Menodotos, Sextus, rein aus den Zuthaten
       der Berichterstatter herauszuschälen,  ist nicht mehr möglich.
          Nur so viel lässt sich mit einiger Sicherheit behaupten: Pyrrho
       hat die monumentalen Grundzüge der griechischen Skepsis selbst ent-
       worfen, Timon   sie formuhrt und  fixirt^);  dieselben heften sich an
       die drei großen Fragen: wie sind die Dinge ^j beschaffen; wie müssen
          1) Die Zeitbestimmungen sind hier trotz der Bemühungen der Philologen und
       Historiker immer noch nicht geklärt.
          2) Aristokles bei Euseb. pr. ev. XTV, 18, 2:  6  5e fAa&yjXT]; auTotj  Ttfjiüuv
       97)01 5eTv Tov (xeXXovxa eüSat(Ji,ovr)i3eiv ei; Tpta taüra ßXeTreiv * Tipörtov  [j-ev, ouoTa n^cpuvte
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       XI Tcepieoxat xou ouxcu?  e')(^ouoi.
          3) Dinge hier in der weitesten Bedeutung des "Wortes zu nehmen.
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