Page 265 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 253
Wenn im gewöhnlichen Leben die kritische Ader in der Weise
sich zu regen beginnt, dass man auch die »andere Seite« der Dinge
in Betracht zieht, dass man immer mehr von der Ueberzeugung sich
durchdringen lässt, dass jedes Ding »seine zwei Seiten« habe, so
erscheint in der griechischen Skepsis diese Art der Kritik auf ihrem
Höhepunkt; denn das skeptische Vermögen, so erfahren wir, besteht
im Confrontiren von Allem, was da ist; in einer Gegenüberstellung
von gleich starken Behauptungen, die sich die Wage halten; eins
widerlegt das andere, und wird seinerseits durch das andere wider-
legt. Es ist, als ob die ganze Welt nur eine große Processverhand-
lung wäre, die aus lauter sich widersprechenden Zeugenaussagen
bestünde; der Skeptiker aber ist Weltrichter und spricht über Alles
sein non liquet. Der Skeptiker macht Ernst mit jenem Sprichworte,
dass jedes Ding seine zwei Seiten habe. Während wir im gewöhn-
lichen Leben damit nur so obenhin verallgemeinern und nur aus-
drücken wollen, ein jedes Ding ließe sich von verschiedenen Gresichts-
punkten aus betrachten (mit dem Begriff des Dinges nicht bis zu den
elementaren sinnlichen Gegenständen und dem Begriff des Gesichts-
punkts nicht zu den Empfindungsqualitäten herabsteigend), so will
nun der Skeptiker buchstäblich, dass jedes Ding seine zwei Seiten
haben soll. Er ist gewillt, SinnHches gegen Gedachtes, Gedachtes
gegen Sinnliches, Sinnliches gegen Sinnliches und Gedachtes gegen
Gedachtes auszuspielen i). Aber es genügt nicht, dass Alles in jeder
erdenküchen Weise einander entgegengesetzt wird; es muss diese
Entgegensetzung eine vollständige sein und darf nicht halb bleiben.
Das ist nicht so zu verstehen, als müsse die eine Seite das contra-
dictorische Gegentheil der andern sein 2), aber die Behauptungen über
die Beschaffenheiten der Dinge müssen sich wie These und Antithese
insofern verhalten, als sich beide an Ueberzeugungskraft, an Glaub-
würdigkeit und Unglaubwürdigkeit nichts vergeben dürfen, dass die
Gleichkräftigkeit, die Isosthenie, erreicht wird 3); jedes Ding muss
1) P. I, 31—34.
Die einander ent-
2) P. I, 10 wird diese Auffassung ausdrücklich abgelehnt.
gegenstehenden Behauptungen brauchen sich nicht wie ja und nein (Tcaracpaou —
äz^cpaci?) zu einander zu verhalten, es genügt, wenn sie miteinander streiten
3) Ebenda.