Page 266 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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         wirklich zwei Seiten haben, die sich die Wage halten.  Man muss
         gestehen: einschneidendere Kritik zu üben,  scheint unmöglich.  In
         der That ist es nöthig, in tiefere Schichten des pyrrhonischen Skepti-
         cismus hinab zu steigen, wenn man die unkritischen Voraussetzungen
         dieser Philosophie aufdecken  will.  Wie nämlich in der Isosthenie
        der eigentUche Grund für die oben erwähnte Epoche, Aphasie, Aporie
        u.  s. w. zu suchen ist^), so führt nun die Begründung dieses Princips
        noch einen Schritt weiter in die inneren Motive des Pyrrhonismus.
        Denn   das  Princip  der  Isosthenie  ist  hier sowohl Methode, Ver-
        fahrungsweise, als Ergebniss gewonnener Einsicht; Methode, insofern
        die Skeptiker ihre wissenschaftliche Bethätigung auf die Widerlegung
        der Dogmatiker beschränken und sich hier des antithetischen Ver-
        fahrens bedienen wollten 2); Ergebniss, insofern die Möglichkeit einer
        allgemeinen Ausdehnung der Isosthenie auf anderweitig festgelegtem
        Grunde ruht. Das isosthenische Princip als Methode erhält erst von
        dem gleichen Princip als Ergebniss seine innere Berechtigung.  Das
        antithetische Verfahren der Skeptiker wäre bloße Spielerei und eine
        Art übermüthiger   Disputirkunst  gewesen,  ähnlich  derjenigen  der
        Sophisten, welche ja auch eine Behauptung heute und morgen deren
        Gegentheil  zu beweisen  liebten 3), wenn nicht  die Lehre von  der
        Isosthenie bei den Skeptikern auf grundsätzlichen und wohlbegrün-
        deten Einsichten beruht hätte.



            1) P. I, 12, 31.
           2) P. I, 18  (vgl. auch I, 204/205 wo unter den skeptischen Redensarten das
        ravTt X6f «» ?oov Xoyov dvxixeta&cxi nach Ansicht Einiger als Aufforderung erklärt
        wird, bei der nur statt des Imperativs der Infinitiv gesetzt sei, >damit der Skep-
        tiker nicht irgendwie von den Dogmatikern betrogen, der Untersuchung ent-
        sage«).
           3) Ob von dem der praktischen Handhabung dienenden Princip der Isosthenie
        bei den jüngeren Sophisten das gleiche Princip bei Protagoras (welcher als
        Erster die Ansicht von den »entgegenstehenden Reden« verkündete, Diog. IX, 51.
        Aristoteles Metaph. IV, 5) durch Ernst und Gewicht abzurücken  sei, hängt
        davon ab, welche Erkenntnisstheorie man dem Protagoras zuweist.  Das Ver-
        hältniss des Princips der Isosthenie bei der Skepsis  als Methode und Ergebniss
        erhellt auch daraus, dass das Princip  als Methode erst von den jüngeren Skep-
        tikern auf den Schild erhoben, als Ergebniss aber schon von Pyrrho, der dem
        antithetischen Verfahren nichts weniger  als hold war (Diog. IX, 69), ausge-
        sprochen wurde. Auch Zell er a. a. 0. III. 2 S. 58 nennt das Princip der Isosthenie
        das »allgemeine Ergebniss des Skepticismus«.
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