Page 269 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus.
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     nommenen Voraussetzungen des Pyrrhonismus.    Die skeptischen An-
     sichten, wie sie Sextus vorträgt, sind gewissermaßen eingespannt in
     den Rahmen einer ganz bestimmten Annahme über das Verhältniss
     der Dinge an sich zu ihren Erscheinungen.  Die allgemeinste Quelle
     dafür  liefert  die  skeptische Terminologie.  Die  Dinge  in  der
     weitesten Bedeutung  i)  können in doppelter Hinsicht betrachtet werden
     — einmal an sich selbst und dann als Vorstellungen im menschlichen
     Bewusstsein.  In der letzteren Bedeutung heißen sie  cpaivdfisva und
     werden als ein selbstverständHcher Begriff, dessen Aufstellung weiter
     keiner Rechtfertigung bedarf, von Sextus eingeführt 2) und beibehalten.
     Und doch   schließt, wie auch Kant bemerkte,   der Ausdruck Er-
     scheinung die Annahme in   sich, dass es etwas gibt, was erscheint
     (Kr.  d.  r. V., Rosenkranz, S. 208).


         1) In dieser heißen  sie bei Sextus meistens -paYfia-a, Erscheinungen wie
     Dinge an sich gleichmäßig befassend (P. I, 12).  "Wegen dieser seiner Allgemein-
     heit kann der Ausdruck sowohl für Erscheinungen allein, als auch für Dinge an
     sich gebraucht werden (beides  z. B, P. I, 13).
         2) P. I, 17.  Die Terminologie des Sextus auf diesem Pimkt ist keine ein-
     deutige,  a) einmal steht die Erscheinung tö  cpaw6[xevov  als der subjective Be-
     wusstseinszustand dem diesen Zustand veranlassenden Ding  (an sich) gegenüber
     (so P. I, 19, 20. 23 u. a.); b) sodaim aber gebraucht Sextus auch cpaivofie'^o iden-
     tisch mit sinnlich Wahrgenommenem (ab&TjTa), und stellt in dieser Bedeutung die
     Phänomene den Vernunft- und Verstandesbegriflfen als den Noumenen  (-ioo'Jitt^o.,
     voTjXa) gegenüber (P. I, 8— 9, 31, 33).  OaivcJfjLeva Se XafjLßovotiev vüv xd ata&Tjxo, SioTiep
     dvTiBia(j-eXXo!j.ev  aÜToi? xd  voT,xd (P. I. 9.  Nach Math. VHI, 216 stammt diese
     Terminologie von Aenesidem).. Beide Bedeutungen gelangen hier keineswegs
     zur Deckung.  Die Erscheinvmgen der Dinge nämlich fallen für Sextus nicht
     etwa wie für die moderne Philosophie mit den sinnlichen Anschauungen zusammen,
     sondern der BLreis der Erscheinungen ist ein viel weiterer; er umfasst vor allem
     auch das Gebiet der moralischen, religiösen und ästhetischen Werthe; auch was
     mir gut, schön, fromm »erscheint«, ist ein cpatvöfAsvov, das auf zu Grunde liegende
     >Dinge« hinweist (P. I, 23).  c)  Öfters  steht endlich an dem cpaivöfxsvov weniger
     die Beziehung auf ein erscheinendes Object, als das ganz innerliche Merkmal der
     Klarheit und Deutlichkeit im Vordergrund. Dann ist das cpow6(x,evov gleichbedeu-
     tend mit TpöSr^Xov und wird in diesem Sinne sowohl von dem , was den Sinnen,
     wie der Vernunft unmittelbar einleuchtet, gebraucht: xwv TipaYf^axtuv  Sixxt] xi; laxt
     xaxd xö dNojxdxcu 5tacpopd, xdö' fjV xd  [xev daxi iTp65r|Xcx, xd Se doTjXa* xal "poOTjXa (jlev
     xd a'jxödev uT:or[7rxovxa xai; Se alo8if]oeat xa\  xi^ Biavotqt, doTjXa 5e xd  txTj i^
     auxöäv  Xijirxd (Math. VHI, 141.  P. 11, 124). Darum  ist zwar jede Erscheinung
     ein npoSijXov , aber nicht jedes  TrpöSifjXov ein  cpaiv6(xevov im Sinn  einer auf Dinge
     an sich hinweisenden Erscheinung.  So kommt es, dass Sextus, wo er rpoOTjXov
     und cpaiv6(xevov gleichbedeutend gebraucht, das ^atvojAe-^ov auch von Bewusstseins-
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