Page 268 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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256                        Raoul Richter.
       sich ist die erste naiv-realistische^) Voraussetzung der skep-
       tischen Erkenntnisstheorie; naiv-realistisch, weil die ReaHtät von
       Dingen an sich  als etwas ganz Selbstverständliches ,  als etwas, was
       gar nicht anders sein könne, in den sonst so hyperkritischen Schriften
       des Sextus  auftritt.  »Wenn wir bezweifeln, ob das Unterliegende
       so  ist, wie  es erscheint, so geben wir zu, dass es erscheint« 2).
       Aber nicht nur das Dasein von an sich und unabhängig vom vor-
       stellenden Subject vorhandenen Dingen, sondern auch die allgemeinen
       Beziehungen zwischen Ding und Vorstellung gehören zu den unbe-
       wiesenen und aus den Anschauungen der Zeit     kritiklos herüberge-



           1) Hier eine kurze Bemerkung zur Terminologie:  ich folge in der Bezeich-
       nung naiver, kritischer Realismus im Ganzen dem Gebrauch dieser Worte bei
       Wundt »üeber naiven und kritischen Realismus«.  Nicht metaphysische, sondern
       erkenntnisstheoretische Richtungen werden damit bezeichnet, und zwar soll unter
       dem naiven oder extremen Realismus die Anschauung verstanden werden,
       welche unabhängig vom wahrnehmenden Subject befindliche Dinge annimmt, be-
       gabt mit Eigenschaften, welche den in den Vorstellungen der Dinge wahrgenom-
       menen Eigenschaften wesensgleich  sind.  Die Vorstellung wird auf dieser Stufe
       als das Abbild des urbildlichen Dinges  gefasst.  Streng genommen müsste nach
       der "Wundt'schen Terminologie (a. a. 0.) diese Auffassung bereits als reflectirender
       Realismus bezeichnet werden; denn die Ansicht von der Vorstellung  als einer
       Nachbildung des Gegenstandes »erscheint nur auf dem Standpunkt des naiven
       Realismus als möglich, oder vielmehr, da bei diesem selbst noch Bild und "Wirk-
       lichkeit ineinObject zusammenfallen, sie entspricht jener beginnenden Reflexion,
       die in der Vorstellung ein Ebenbild des Gegenstandes sieht.«  ("Wundt,  a. a. 0.
        I. S. 333). Von dieser allerersten Stufe des psychologischen Befundes glaubten wir
       aber hier absehen zu dürfen, da sie als philosophische Erkenntniss wohl niemals
       aufgetreten ist; daher wurde, weil, an dem philosophischen Bewusstsein der Skep-
       tiker gemessen, ihr erkenntnisstheoretischer Standpunkt wirklich ein naiver ist,
        und auch der Kürze des "Wortes halber, die Bezeichnung »naiver Realismus« in
        etwas weiterer Bedeutung genommen. Der kritische oder gemäßigte Realismus
       hält an der Realität der Dinge fest, spricht ihnen aber auf Grund kritischer Er-
        wägungen nur die physikalisch - mathematischen Eigenschaften zu, indem er die
        sinnlichen  Qualitäten  ins  Subject zurücknimmt.  Der extreme Idealismus
        leugnet die Realität unabhängig vom Subject  bestehender Dinge und erkennt
       nur Bewusstseinszustände und deren Träger an; der kritische Idealismus be-
        zeichnet den Kant 'sehen Standpunkt in der Lösung des erkenntnisstheoretischen
        Grundproblems.
           2) P. I, 19. Das Dasein der Dinge an sich wird hier ausdrücklich zugegeben;
        es  ist  dies  die  einzige mir bekannte Stelle, wo das in der "Weise geschieht;
        hätten die Skeptiker sich darüber öfter geäußert, so wären sie sich dieser These
        als einer Voraussetzung bewusst geworden und hätten  dieselbe kritisch gestützt
        oder überwunden.
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