Page 263 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus.  251

        Wollten wir daher die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen
    des pyrrlionischen Skepticismus an den Lehren seiner einzelnen Ver-
    treter prüfen,  so würde  sich die Untersuchung ersichtlich auf sehr
    unsicherem Boden bewegen.    Philologische, nicht philosophische Ge-
    sichtspunkte müssten dieselbe beherrschen.  Philosophisch fruchtbarer
    ist es jedenfalls,  sich an die pyrrhonische Skepsis als Ganzes, wie
    sie uns  in den Schriften des Sextus überHefert  ist, bei der Be-
    urtheilung der gesuchten Voraussetzungen zu halten.  Denn als  ein
    Ganzes dem Geiste nach und nicht nur als eine mechanische Samm-
    lung einzelner Lehren zeigen die »Hypotyposen« den pyrrhonischen
    Skepticismus.  Natürlich  soll damit eine Entwicklung dieser Lehre
    durch sechs Jahi-hunderte hindurch nicht geleugnet werden.  Aber
    was  sich veränderte, wai'en mehr die Begründungen, nicht so sehr
    die  erkenntnisstheoretischen Endergebnisse noch  die Grundvoraus-
    setzungen.  Die  letzteren zumal  bleiben durch  die  Schiiften  des
    Sextus hindurch, mag er die Ansichten Timon's oder Aenesidem's
    oder seine eigenen wiedergeben, im Ganzen die gleichen.  Sie gehen
    augenscheinHch auf die  Stifter der Schule zurück  i),  wenn auch die
    schärfere Abgrenzung und   begriffliche Bestimmtheit derselben  erst
    aus den Ausführungen der späteren Skeptiker erhellen kann 2).
        Wenn man nun den antiken Skepticismus als Ganzes überschaut,
    so scheint  es keine  vorsichtigere,  voraussetzungslosere,  vorurtheils-
    freiere, undogmatischere und kritischere Philosophie gegeben zu haben,
    als eben ihn.  üeberall will er sich nur suchend, spähend, zurück-
    haltend, zweifelnd verhalten 3), auf keinem Punkte  pflichtet er den
    Lehransichten  der  dogmatischen  Philosophen  bei^);  seine  eigene
    Meinung geht dahin, dass man »nichts bestimmen« dürfe, dass Alles
    »unbestimmt«  sei und  » unauffassbar  , dass man »an  sich halten«
                                        «
    müsse, dass die Dinge »nicht mehr so als so« beschaffen seien, dass



        1) Vgl. die Originalthesen der ältesten Skeptiker, oben S. 248 ff.
        2) Wo aber eine Abweichung von den Voraussetzungen,  die wir an den
    Schriften des Sextus  entvN-ickeln wollen, bei einem Mitglied der Schide nach-
    weisbar stattgefunden haben könnte, wird eine solche ausdrücklich besprochen
    werden müssen (vgl. S. 295 1).
        3) P. I,  7. Diog. IX, 76 (P. = üu^Jjobveioi 'riro-cuTrodaei«).
        4) P. I, 13.  Diog. rX, 74.
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