Page 267 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 255
Jeder Behauptung, — das ist der Sinn dieser Lehre, welcher
dieselbe weit von derjenigen der Sophisten abrückt — kann nicht
nur durch dialectische G-eschicklichkeit und in Folge einer Art von
geistiger Sportübung eine gegentheihge zugeordnet werden; sondern
jeder These über die Beschaffenheit der Dinge steht nothwendig und
aus inneren Gründen (soweit solche Ausdrücke innerhalb der skep-
tischen Anschauungsweise erlaubt sind) die Antithese gegenüber.
Denn keines unserer Erkenntnissmittel erreicht die Wahrheit. Darum
ist hier eine Behauptung inmier so richtig und so falsch als ihr
Gegentheil. Der Satz aber, dass keines unserer Erkenntnissmittel
die Wahrheit je erreichen könne, ist bekanntlich von den Skeptikern
eingehend begründet worden. Erst mit dieser Begründung stehen
wir vor den erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des pyrrho-
nischen Skepticismus.
n.
Die erste erkenntnisstheoretische These des pyrrhonischen Skepti-
cismus, welche sich als unkritisch hingenommene Voraussetzung er-
weist, enthüllt sich sofort, wenn man auf den Sinn achtet, in welchem
diese Richtung die Unerkennbarkeit der Dinge behauptet. Unter
den Dingen nämlich, welche sich in jeder Weise unserer Erkenntniss
entziehen, und über deren Beschaffenheit sich der Skeptiker des
Urtheils enthält, sind, wie uns Sextus wiederholt und ausdrückhch
versichert 1), niemals die »Erscheinungen«, sondern stets nur die
»Dinge an sich« zu verstehen. Nur für die Dinge an sich gilt die
ganze kritische Vorsicht; nur über sie hat man keine Lehransichten 2);
nur sie sind unbestimmt 3), unauffassbar*), nicht mehr so als so be-
schaffen^); nur über sie kann man nichts aussagen ß); nur für sie
auch und ihre Beschaffenheiten gilt allein das Princip der Isosthenie').
Bei alledem wird die Existenz von Dingen an sich an kaum einer
Stelle bezweifelt, aber eben so wenig auch der Versuch gemacht,
ihr Dasein irgendwie zu beweisen. Die Existenz der Dinge an
1) P. I, 13. 17. 19—23 u. a. Diog. IX, 77. 91. 104. 105. Dahin gehört auch
die unklare und vielleicht verstümmelte Wendung bei Diog. IX, 103: tö [xev ^ap
oTi 6pä>(i.£v ötjLoXoYOÜfxev xai xö ort xöSe voovfxev fi'(S(h<JY.O[).t^, "cü? Se 6pä)(i.£v r) töj;
vooufxev dYvooO(X£v.
2) P. I, 13. 3) P. I, 198/99. 4) P. I, 200/201.
5) P. I, 213. 6) P. I, 193. 7) P. I, 202.