Page 272 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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260                       Raoul Richter.

        erhält den Abdruck (tuttwoi?)  i)  eines jeden Dinges; zur Illustration
        dafür,  dass  die  »außerhalb unterliegenden Dinge verschieden ange-
        schaut werden nach dem verschiedenen Bau der    die  cpavTaota? er-
        duldenden Lebewesen«,  wird  eine Fülle von Vergleichen  aus  der
        körperlichen Natur herangezogen,   es wird auf die gleiche Speise,
        welche sich in Knochen, Ader, Sehne umsetzt, hingewiesen ; auf das-
        selbe Wasser, welches im Baum bald zur Einde, bald zum Zweig,
        bald  zur Frucht  sich  gestaltet;  auf  den  nämlichen Hauch  des
        Musikers, der in die Flöte geblasen  je nachdem einen hohen oder
        tiefen Ton  erzeugt  u.  s. w. 2).  Aber  solche  ausdrücklichen Ver-
        sicherungen über die allgemeinen Beziehungen,  in denen die Dinge
       zu ihren Vorstellungen oder Erscheinungen stehen, finden  sich nur
       höchst  selten in des Sextus Schriften niedergelegt und ermangeln
        dann jeder Begründung; wogegen   sie an ungezählten Stellen in der
        Entwicklung der skeptischen Theorie von der Unerkennbarkeit der
        Dinge, als zu Grunde Hegende Annahmen an den Tag treten.  Beides
        dient zum Beweise,  dass wir  es hier mit erkenntnisstheoretischen
        Voraussetzungen zu thun haben.  Aber diese Voraussetzungen gehen
        weiter.  Nicht nur auf  die Existenz unabhängig vom Subject be-
        stehender  äußerer  Gegenstände,  nicht nur  auf  die  allgemeinsten
        Relationen zwischen diesen Gegenständen und den   sie erfassenden
        Subjecten, auf die Activität der Objecte, die Passivität des Subjects
        sind sie gerichtet — sie erstrecken sich auch auf die Auffassung von
        der näheren Beschaffenheit und der Natur der Dinge an
        sich.  Bis jetzt hatten wir die Dinge an sich und ihre Erscheinungen
        noch in ihrer allgemeinsten Bedeutung genommen und alles über sie
        Gesagte bezieht sich auf die ganze Sphäre dieser Begriffe. Nun aber,
        wo wir den Voraussetzungen über die Natur dieser Dinge an    sich
        nachspüren wollen, werden wir gut thun, die beiden großen Abthei-
                              die in den Schriften des Sextus   sich vor-
        lungen von u7rox£i[x£va ,
        finden,  gegen  einander abzugrenzen und getrennt zu untersuchen.
        Der eine Kreis von Dingen an sich betrifft die den sinn-
        lichen Wahrnehmungen, der andere Kreis            die den   sitt-
        lichen Werthen zu Grunde liegenden Dinge.         Beide Gruppen

           1) P. I, 49. Die Zurückweisung der materiellen Anschauung von der xuTroaoti;
        findet sich freilich P. II, 70.
           2) P. I, 53, 54.
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