Page 259 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die erkenntnisstheoretischen Voraussetzungen des griech. Skepticismus. 247
sich mit dem Skepticismus in der Philosophie geschichtUch beschäftigt,
wii-d von dessen gi'iechischer Urform immer aufs Neue gefesselt. Hier
steht die Wiege manches erkenntnisstheoretischen Satzes bis auf
Hume herab; hier spielen sich warme Gemüthsbedürfnisse und kälteste
Dialektik in einziger "Weise in die Hände; hier sind vor allen Dingen
von einem philosophischen G-rundstandpunkt die Folgerungen so gerad-
linig und rücksichtslos zu Ende gedacht, weisen alle Vermittelungs-
versuche, welche ein reicheres Erfahrungswissen späteren Zeiten auf-
nöthigte, so weit von sich, dass die reizvolle Frische und Unmittel-
barkeit, welche der ganzen giiechischen Philosophie eigen, allerdings
auch nur auf einer niederen Stufe der wissenschaftlichen Entwicklung
möglich ist, ihren Zauber auf uns nicht verfehlen kann. Mit Becht
hat man behauptet, dass die ppThonische Skepsis »einen Höhepunkt
in der Entwicklung dieser Denkweise bezeichnet, der späterhin selten
mehr erreicht worden ist«*); dass »principiell die neuere Zeit den
Argumenten der alten Skeptiker kaum etwas wesentlich Neues
dass >der Scharfsinn, mit dem die alten
beizufügen vermochte« 2);
Skeptiker ihre Zweifel zur Geltung brachten, nicht nur an sich zu
den bewundernswerthesten Leistungen des menschlichen Denkens ge-
hört, sondern dass er außerdem durch die Kückwirkungen, welche
die Skepsis auf die andern Richtungen ausübte, eines der mächtigsten
Förderungsmittel der philosophischen Erkenntniss überhaupt gewesen
ist« 3). So hat denn auch der griechische Skepticismus in unserer
Zeit nicht nur meisterhafte Gesammtdarstellungen erfahren *), sondern
man hat auch einzelne seiner Lehren zum Gegenstand besonderer
Erörterungen gemacht (Natorp, Hirzel u. a.). Dabei war, soweit
man sich nicht in philologische oder historische Detailuntersuchungen
verlor, immer das Hauptinteresse auf die Darstellung oder Kritik
der skeptischen Lehre, ihrer Ergebnisse und ihrer Begründungen ge-
richtet. Dagegen ließ man die Voraussetzungen, von denen die
antike Skepsis mit Hülfe ihi-er Argumentationen zu den Endi'esultaten
gelangte, außer Acht. Und doch ist gerade dies Verhältnis von
1) Wundt, Einleitung in die Philosophie, S. 338.
2) Ebenda, S. 338/39.
3) Ebenda, S. 335/36.
4) Neben die Behandlung in Zell er 's Gesch. d. gr. Philos. tritt vor allem das
"Werk Brochard's: Les sceptiques grecs (Paris 1887).