Page 466 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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454 ^- Vierkandt.
züglich für die Weiterentwicklung und Umgestaltung der Culturgüter
sind diese Motive von der größten Bedeutung, sofern sie einen ein-
mal, wenn auch aus minderwerthigeren Motiven geschaffenen That-
bestand nachträglich durchdringen und seine Weiterentwicklung her-
vorrufen können. Auf dem Gebiet des sittlichen Lebens hat Wundt
diesen Process als Verschiebung der Motive bezeichnet und näher
beleuchtet. Die Blutrache wird z. B. auf diesem Wege aus einem
Geschöpf der blinden Rachsucht zu einem bewussten Mittel, das
Leben zu sichern; die Gastfreundschaft aus einer Ausgeburt egoisti-
schen Aberglaubens zu einem Ausdruck humaner Regungen u. s. w.
Zweitens ist ein innerer Werth einzelnen Culturgütern von Haus aus
immanent. Insbesondere gilt das für das Gebiet des sittlichen Lebens.
Zunächst besitzen hier alle Gebote, unabhängig von ihrem Inhalt,
den großen formalen Werth den Eigenwillen zu bändigen und zu
brechen; insbesondere den so überaus zahlreichen religiösen Geboten
der niederen Völker hat man, ungeachtet ihres oft sq absurden Cha-
rakters, schon immer mit Recht diesen Nutzen nachgerühmt. Aber
auch sachlich muss man den Satzungen, Geboten und Sitten eines
Stammes, indem man darin dem Ideenkreis des Utilitarismus beistimmt,
nachsagen, dass wenigstens ein großer Theil von ihnen dem Nutzen
der Gesammtheit entspricht, in diesem Sinne also einen ethischen
Werth besitzt.
Trotz dieser Gegeninstanzen liegt aber, wie gesagt, der wahre
Sachverhalt dem conventionalistischen Extrem näher als dem ideali-
stischen. Der Eindruck, den wir von den Grundlagen der Cultur
und deren gesammtem Charakter durch unsere Betrachtung erhalten
haben, ist ein vorwiegend pessimistischer. Die Wirksamkeit der Ge-
sammtheit der von uns erörterten Factoren kann man angesichts der
Sicherheit, mit der sie dem Einzelnen völlig unbewusst und völlig
unabhängig von seiner Willkür functioniren, mit einem Mechanismus
vergleichen; und sie stimmt mit einem solchen auch darin überein,
dass sie, wie jeder Mechanismus, blind ist, d. h. ihren Stoff unabhängig
von dessen Werth verarbeitet. Man könnte diesen Mechanismus auch
als einen überpräcisen bezeichnen, sofern er, teleologisch betrachtet,
oft über sein Ziel hinausschießt; denn er widersetzt sich vielfach,
wie wir sahen, auch der Umwandlung der bestehenden und der
Schaffung neuer Culturgüter. Seine Zweckmäßigkeit ist oft rein