Page 464 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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452 ^- Vierkandt.
G-esellschaft auf das Individuum war man bekanntlich mehr geneigt
in der Hauptsache als depravirende, von der Reinheit der Natur hin-
wegführende aufzufassen. Ferner schrieb man dem Menschen ein so
hohes Geistesniveau zu, dass sein ganzes Benehmen in erster Linie
durch adäquate Gründe, insbesondere durch richtige logische, ethische
und ästhetische Werthschätzungen geleitet würde. Für diese An-
schauung beruhte die Erhaltung der Cultur demgemäß vorzüglich auf
der Einsicht in den Werth der einzelnen Culturgüter, ähnlich wie
man ja auch deren Erschaffung hauptsächlich auf zweckbewusste
Thätigkeit, insbesondere auf vorwegnehmende Berechnung ihres Werthes
zurückzuführen pflegte. Mit dieser Auffassung stand freilich die
andere, eben genannte von dem depravirenden Einfluss der Cultur
in einem gewissen Widerspruch; indessen milderte sich dieser durch
die wiederum auf den Grundgedanken zurückführende Annahme, dass
eine Befreiung von jenen irreleitenden Einflüssen und eine Rückkehr
—
zu dem gesunden Zustande der Natur im Princip für möglich galt.
Wie verfehlt dieser Ideenkreis ist, bedarf keines Wortes ; insbesondere
würde die ganze Reihe der von uns erörterten subjectiven Gründe
für die Erhaltung der Culturgüter genügen, um seine Unrichtigkeit
aufzudecken.
Die entgegengesetzte Anschauung, für welche die Wirksamkeit
der objectiven Factoren nicht existirt, begegnet uns schon in dem
Gedankenkreise der Sophistik und ist neuerdings im Zusammenhange
mit dem Entwicklungsgedanken in Gestalt eines unbeschränkten Rela-
tivismus ausgeprägt worden. Für diese Anschauung haben die
Culturgüter fast nur einen conventioneilen Werth.
Der wahre Sachverhalt liegt offenbar zwischen diesen beiden
Extremen, aber doch dem letztgenannten bedeutend näher als dem
erstgenannten. Wir machen uns diese Thatsache am besten dadurch
klar, dass wir eine, mit unserem Thema verwandte Frage hier kurz
erörtern: Wie entstehen die Culturgüter? Da nämlich die subjec-
tiven Factoren jeden ihnen einmal vorgegebenen Inhalt unabhängig
von dessen inneren Eigenschaften wie einen Mechanismus erfassen,
so kommt es offenbar vorzüglich darauf an, welcher Stoff ihnen ge-
geben wird. Der Vorgang, auf den wir so hingewiesen werden, steht
zu dem von uns in dieser Abhandlung betrachteten in einem Ver-
hältniss sowohl der Verwandtschaft wie des Gegensatzes. In einem