Page 464 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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       G-esellschaft  auf das Individuum war man bekanntlich mehr geneigt
       in der Hauptsache als depravirende, von der Reinheit der Natur hin-
       wegführende aufzufassen.  Ferner schrieb man dem Menschen ein so
       hohes Geistesniveau zu,  dass  sein ganzes Benehmen  in erster Linie
       durch adäquate Gründe, insbesondere durch richtige logische, ethische
       und ästhetische Werthschätzungen  geleitet würde.  Für  diese An-
       schauung beruhte die Erhaltung der Cultur demgemäß vorzüglich auf
       der Einsicht in den Werth der einzelnen Culturgüter,  ähnlich  wie
       man  ja auch   deren Erschaffung  hauptsächlich  auf zweckbewusste
       Thätigkeit, insbesondere auf vorwegnehmende Berechnung ihres Werthes
       zurückzuführen  pflegte.  Mit  dieser Auffassung  stand  freilich  die
       andere, eben genannte von dem    depravirenden Einfluss der Cultur
       in einem gewissen Widerspruch; indessen milderte sich dieser durch
       die wiederum auf den Grundgedanken zurückführende Annahme, dass
       eine Befreiung von jenen irreleitenden Einflüssen und eine Rückkehr
                                                                      —
       zu dem gesunden Zustande der Natur im Princip für möglich galt.
       Wie verfehlt dieser Ideenkreis ist, bedarf keines Wortes ; insbesondere
       würde  die ganze Reihe der von uns   erörterten subjectiven Gründe
       für die Erhaltung der Culturgüter genügen, um seine Unrichtigkeit
       aufzudecken.
          Die  entgegengesetzte Anschauung,  für welche  die Wirksamkeit
       der objectiven Factoren nicht  existirt, begegnet uns schon in dem
       Gedankenkreise der Sophistik und ist neuerdings im Zusammenhange
       mit dem Entwicklungsgedanken in Gestalt eines unbeschränkten Rela-
       tivismus  ausgeprägt  worden.  Für  diese Anschauung haben    die
       Culturgüter fast nur einen conventioneilen Werth.
          Der wahre Sachverhalt liegt offenbar zwischen diesen beiden
       Extremen, aber doch dem letztgenannten bedeutend näher als dem
       erstgenannten. Wir machen uns diese Thatsache am besten dadurch
       klar, dass wir eine, mit unserem Thema verwandte Frage hier kurz
       erörtern: Wie entstehen die Culturgüter? Da nämlich die subjec-
       tiven Factoren jeden ihnen einmal vorgegebenen Inhalt unabhängig
       von dessen inneren Eigenschaften wie einen Mechanismus   erfassen,
       so kommt es offenbar vorzüglich darauf an, welcher Stoff ihnen ge-
       geben wird.  Der Vorgang, auf den wir so hingewiesen werden, steht
       zu dem von uns   in dieser Abhandlung betrachteten  in einem Ver-
       hältniss sowohl der Verwandtschaft wie des Gegensatzes.  In einem
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