Page 465 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Die Grriinde für die Erhaltung der Cultur.   453
    gegensätzliclien Verhältniss insofern,  als  die für die Erhaltung der
    Cultur thätigen Factoren nicht nur sämmtlich einer Umwandlung der
    bestehenden Zustände,  sondern^^ einige von ihnen auch  jeder Neu-
    schaffung von Culturgütem   sich  widersetzen.  Ein Verhältniss der
    Verwandtschaft aber ist deswegen vorhanden, weil in der Hauptsache
     für den Process der Umwandlung und Neuschaffung dieselben Kräfte
     in Betracht kommen wie für den der Erhaltung — eine Beziehung,
     die es uns auch begreiflich macht, warum der eben genannte Wider-
     stand in manchen Fällen nicht zur G-eltung kommt.   Auch für die
     Entstehung der Culturgüter kommen formale und sachliche Motive in
     Betracht.  Als formales Motiv ist vor allem der Factor der Eitelkeit
     zu nennen, dessen Einfluss auf die Schaffung von Moden längst be-
     kannt ist, und über dessen Bedeutung für manche andere insbesondere
     wirthschaftliche Culturgüter uns eine kürzhch erschienene Veröffent-
     lichung *) in dankenswerther Weise belehrt hat. Die sachlichen Gründe
     können wir in derselben Weise wie bei unserem Thema in primäre
     und secundäre eintheilen, und die letzteren sind dann auch hier min-
     destens in demselben Maße wichtig wie die   ersteren.  Im Ganzen
     überwiegen jedenfalls auch hier die subjectiven vor den  objectiven
     Factoren —   ein Missverhältniss , das  in Verbindung mit dem ent-
     sprechenden Missverhältniss bei der Erhaltung der Culturgüter uns
     eine sehr pessimistische Anschauung über den Grad des Conventio-
     nellen in unserer Cultur nahe legt.
        Allerdings enthalten die Dinge  selbst gegen dieses Uebervdegen
     des Conventionellen gewisse Gegengewichte in  sich, vorzüglich nach
     zwei Seiten.  Erstens sehen wir die logische, ethische und ästhetische
     Werthschätzung bei der Entwicklung der Cultur neben den subjec-
     tiven Factoren  vielfach  eine  große  Rolle  spielen.  Auch  in  der
     krausesten Mythologie lässt sich eine gewisse primitive Logik, auch
     in dem Zusammenleben der niedrigsten Horden     ein gewisser Grad
     von Altruismus, auch in den Kunstleistungen der rohesten Stämme
     ein gewisses Maß von ästhetischem Gehalt nicht verkennen.    Vor-


         1) B. Gurewitsch, Die Entwicklung der menscWichen Bedürfhisse und die
      sociale Gliederung der  GeseUschaft.  (Staats- und  socialwissenschafüiche For-
      schungen Bd. XIX, Heft 4.) - Eine ausführliche Besprechung des Buches und zu-
      gleich eine Erörterung des im Text oben in Rede stehenden Problems vom Ver-
      fasser in der Zeitschr. f. Socialwissenschaft, Bd. 5.
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