Page 12 - Grete Minde
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»Ich hab ihm nicht ins Herz gesehen. Aber ich glaub's nicht recht. Denn sieh, sie hatte
keine Liebe, und wer keine Liebe hat, der findt auch keine. Das ist so Lauf der Welt, und
es war just so, wie's mit der Trud ist. Aber ein Unterschied ist doch. Denn unsre Trud,
obwohlen sie mir das gebrannte Herzeleid antut, ist doch hübsch und klug und weiß, was
sie will, und paßt ins Haus und hat eine vornehme Art. Das haben so die
Gardelegenschen. Aber die Stendalsche, die hatt es nicht und hat keinem was gegönnt
und paßte nicht ins Haus, und wäre nicht der Grabstein mit der langen Inschrift, es wüßte
keiner mehr von ihr. Auch Gigas nicht. Und zu dem hielt sie sich doch und ging in die
Beichte.«
»Und zu dem soll ich nun auch gehen, Regine; morgen schon. Trud ist bei ihm gewesen,
und das Spielen und Klettern soll nun ein End haben, und ich soll vernünftig werden, so
sagen sie. Aber ich fürchte mich vor Gigas. Er sieht einen so durch und durch, und mir ist
immer, als mein er, ich verstecke was in meinem Herzen und sei noch katholisch von der
Mutter her.«
»Oh, nicht doch, Gret. Er hat dich ja selber getauft. Und jeden Sonntag bist du zur Kirch
und singst Doktor Lutheri Lieder, und singst sie, wie sie Gigas nicht singen kann. Ich hör
immer deine feine kleine Stimme. Nein, nein, laß nur und ängstige dich nicht. Er meint es
gut. Und nun schlaf, und wenn du von dem Puppenspiele träumst, so gib acht, mein
Gretel, und träume von der Seite, wo die Engel stehn.«
Und damit wollte sie nebenan in ihre Kammer gehen. Aber sie kehrte noch einmal um und
sagte: »Und weißt du, Grete, der Valtin ist doch ein guter Jung. Alle Zernitzens sind gut...
Und von dem Valtin darfst du auch träumen. Ich erlaub es dir, ich, deine alte Regine.«
Fünftes Kapitel
Grete bei Gigas
Es war den andern Vormittag, und von Sankt Stephan schlug es eben zehn, als Trud und
Grete die Lange Straße hinaufgingen. Trotz früher Stunde brannte die Sonne schon, und
beide standen unwillkürlich still und atmeten auf, als sie den schattigen Lindengang
erreicht hatten, der, an der niedrigen Kirchhofsmauer entlang, auf das Predigerhaus zulief.
Auch dieses Haus selber lag noch unter alten Linden versteckt, in denen jetzt viele
Hunderte von Sperlingen zwitscherten. Eine alte Magd, als die Glocke das Zeichen
gegeben, kam ihnen von Hof oder Küche her entgegen und wies, ohne gegrüßt oder
gefragt zu haben, nach links hin auf die Studierstube. Wußte sie doch, daß Frau Trud
immer willkommen war.
Es war ein sehr geräumiges Zimmer, mit drei großen und hohen Fenstern, ohne Vorhänge,
wahrscheinlich um das wenige Licht, das die Bäume zuließen, nicht noch mehr zu
verkümmern. An den Wänden hin liefen hohe Regale mit hundert Bänden in braun und
weißem Leder, während an einem vorspringenden Pfeiler, gerade der Tür gegenüber, ein
halblebensgroßes Kruzifix hing, das auf einen langen, eichenen Arbeitstisch herniedersah.
Auf diesem Tische, zwischen aufgeschlagenen Büchern und zahlreichen Aktenstößen,
aber bis an die Kruzifix-Wand zurückgeschoben, erhob sich ein zierliches, fünfstufiges
Ebenholztreppchen, das, in beabsichtigtem oder zufälligem Gegensatz, oben einen
Totenkopf und unten um seinen Sockel her einen Kranz von roten und weißen Rosen trug.
Eigene Zucht. Zehn oder zwölf, die das Zimmer mit ihrem Dufte füllten.
Gigas, als er die Tür gehen hörte, wandte sich auf seinem Drehschemel und erhob sich,
sobald er Trud erkannte. »Ich bitt Euch, Platz zu nehmen, Frau Minde.« Dabei schob er ihr