Page 15 - Grete Minde
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Haus. Euer Vater ist alt, und Euer Eheherr ist ein Wachs in Eurer Hand, und ihr wißt es
            wohl, aller Samen, der vom Unkraut fällt und wuchert, ist ein Unheil und schädigt uns das
            Korn für unsre himmlischen Scheuren.«
            Sie hatten ihren Gang um das Rondel herum wiederaufgenommen, aus dessen kleinen
            dreieckigen  Beeten  die   junge   Frau   jetzt  einzelne   Blumen  pflückte.  Beide  schwiegen.
            Endlich sagte Trud: »Ich beherrsche das Haus, sagt Ihr. Ja, ich beherrsch es, und man
            gehorcht mir; aber es ist ein toter Gehorsam, von dem das Herz nicht weiß. Das trotzt mir
            und geht seinen eigenen Weg.«
            »Aber Grete ist ein Kind.«

            »Ja und nein. Ihr werdet sie nun kennenlernen. Achtet auf ihr Auge. Jetzt schläft es, und
            dann springt es auf. Es ist etwas Böses in ihr.«
            »In uns allen, Frau Trud. Und nur zwei Dinge sind, es zu bändigen: der Glaube, den wir
            uns erbitten, und die Liebe, die wir uns erziehn. Liebt Ihr das Kind?«
            Und sie senkte den Blick.







            Sechstes Kapitel

                                                     Das Maienfest

            Ein Jahr beinah war vergangen, und die Tangermünder feierten, wie herkömmlich, ihr
            Maienfest. Das geschah abwechselnd in dem einen oder andern jener Waldstücke, die die
            Stadt in einem weiten Halbkreis umgaben. In diesem Jahr aber war es im Lorenzwald, den
            die Bürger besonders liebten, weil sich eine Sage daran knüpfte, die Sage von der
            Jungfrau   Lorenz.   Mit   dieser   Sage   aber   verhielt   es   sich   so.   Jungfrau   Lorenz,   ein
            Tangermünder Kind, hatte sich in dem großen, flußabwärts gelegenen Waldstück, das
            damals noch die Elbheide hieß, verirrt, und als der Abend hereinbrach und noch immer
            kein Ausweg sichtbar wurde, betete sie zur Mutter Gottes, ihr beizustehen und sich ihrer
            Not zu erbarmen. Und als sie so betete, da nahte sich ihr ein Hirsch, ein hoher Elfender,
            der legte sich ihr zu Füßen und sah sie an, als spräch er: »Ich bin es, besteige mich nur.«
            Und sie bestieg mutig seinen Rücken, weil sie fühlte, daß ihr die Mutter Gottes das schöne
            Tier in Erhörung ihres Gebetes geschickt habe, und klammerte sich an sein Geweih. Der
            Hirsch aber trug sie, zwischen den hohen Stämmen hin, aus der Tiefe des Waldes heraus,
            bis an das Tor und in die Mitte der Stadt. Da blieb er und ließ sich fangen. Und die Stadt
            gab ihm ein eingehürdet Stück Weideland und hielt ihn in Schutz und Ansehen bis an
            seinen Tod. Und auch da noch ehrten sie das fromme Tier, das der Mutter Gottes gedient
            hatte, und brachten sein Geweih nach Sankt Nikolai und hingen es neben dem Altarpfeiler
            auf.   Den   Wald   aber,   aus   dem   er   die   Jungfrau   hinausgetragen,   nannten   sie
            den Lorenzwald.
            Und dahin ging es heut. Die Gewerke zogen aus mit Musik und Fahnenschwenken, und
            die Schulkinder folgten, Mädchen und Knaben, und begrüßten den Mai. Und dabei sangen
            sie:
             »Habt ihr es nicht vernommen?
             Der Lenz ist angekommen!
             Es sagen's euch die Vögelein,
             Es sagen's euch die Blümelein,
             Der Lenz ist angekommen.
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