Page 20 - Grete Minde
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alle. Aber von seinem Glauben und seiner Glaubensfestigkeit wisse nur er. Und wenn
schon jeder in Gefahr stehe, Unkraut unter seinem Weizen aufschießen zu sehen, so
habe doch diese Gefahr keinem so nahe gestanden wie diesem Toten. Denn nicht nur,
daß er eine Reihe von Jahren unter den Bekennern der alten Irrlehre gelebt, die
bedrohlichste Stunde für das Heil seiner Seele sei die Stunde seiner zweiten
Eheschließung gewesen. Denn die Liebe zum Weibe, das sei die größte Versuchung in
unsrer Liebe zu Gott. Aber er hab ihr widerstanden und habe nicht um irdischen Friedens
willen den ewigen Frieden versäumt. In seinem Wandel ein Vorbild, werde sich die selige
Verheißung, die Christus der Herr auf dem Berg am Galiläischen Meer gegeben, dreifach
an ihm erfüllen. Sei er doch friedfertig und sanftmütig gewesen und reinen Herzens.
Und nun sangen sie wieder, während die Träger den Toten aufhoben und ihn das
Mittelschiff entlang aus der Kirche hinaus auf den Kirchhof trugen. Denn ein Grab im
Freien war sein Letzter Wille gewesen. Draußen aber, unter alten Kastanienbäumen,
deren Laub sich herbstlich zu färben anfing, setzten sie den Sarg nieder, und als er
hinabgelassen und das letzte Wort gesprochen war, kehrten alle heim, und Trud und Gerdt
schritten langsam die Straße hinunter, bis an das Mindesche Haus, das nun ihre war. Nur
Grete war geblieben und huschte heimlich in die Kirche zurück und setzte sich auf die
Bahre, die noch an alter Stelle stand. Sie wollte beten, aber sie konnte nicht und sah
immer nur Trud, so herb und streng, wie sie sie früher gesehen hatte, und fühlte deutlich,
wie sich ihr das Herz dabei zusammenschnürte. Und eine Vorahnung überkam sie wie
Gewißheit, daß Regine wohl doch recht gehabt haben könne. So saß sie und starrte vor
sich hin und fröstelte. Und nun sah sie plötzlich auf und gewahrte, daß das Abendrot in
den hohen Chorfenstern stand und daß alles um sie her wie in lichtem Feuer glühte: die
Pfeiler, die Bilder und die hochaufgemauerten Grabsteine. Da war es ihr, als stünde die
Kirche rings in Flammen, und von rasender Angst erfaßt, verließ sie den Platz, auf dem sie
gesessen, und floh über den Kirchhof hin.
In den engen Gassen war es schon dunkel geworden, der rote Schein, der sie geängstigt,
schwand vor ihren Augen, und ihr Herz begann wieder ruhiger zu klopfen. Als sie aber den
Flur ihres Hauses erreicht hatte, stieg sie zu Reginen hinauf und umarmte sie und küßte
sie und sagte: »Regine, nun bin ich ganz allein. Eine Waise!«
Achtes Kapitel
Eine Ritterkette
Eine Waise war sie, und sie sollt es nur allzubald empfinden. Anfangs ging es, auch noch
um die Christzeit, als aber Ostern herankam, wurd es anders im Haus, denn es geschah,
was nicht mehr erwartet war: Trud genas eines Knäbleins. Da war nun die Freude groß,
und auch Grete freute sich. Doch nicht lange. Bald mußte sie wahrnehmen, daß das
Neugeborene alles war und sie nichts; Regine kochte den Brei, und sie gab ihn. Daß sie
selber ein Herz habe und ein Glück verlange, daran dachte niemand; sie war nur da um
andrer Glückes willen. Und das verbitterte sie.
Ein Trost war, daß sie Valtin häufiger sah. Denn Trud hatte für nichts Sinn mehr als für das
Kind, und nur selten, wenn sie sich aus Laune oder Zufall auf ihr Hüteramt besann, fiel sie
vorübergehend in ihre frühere Strenge zurück.
So vergingen die Tage, meist ohne Streit, aber noch mehr ohne Lust und Freud, und als
es jährig war, daß sie den alten Minde von seinem Platz vor dem Altar auf den Kirchhof