Page 19 - Grete Minde
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würde, von dem graden Pfade des Rechts und von dem »Irrpfad in der Wildnis« zu
            sprechen. Aber solche Predigt unterblieb, und die Sommermonate vergingen ruhiger als
            irgendeine   Zeit   vorher.   Aller   Groll   schien   vergessen,   und   Grete,   die,   nach   Art
            leidenschaftlicher Naturen, ebenso rasch zu gewinnen als zu reizen war, gewöhnte sich
            daran, in den Stunden, wo Gerdt außerhalb des Hauses seinen Geschäften nachging, in
            Truds Schlafzimmer zu sitzen und ihr vorzuplaudern oder vorzulesen, was sie besonders
            liebte. Und wenn Regine den Kopf schüttelte, sagte sie nur: »Du bist eifersüchtig und
            kannst sie nicht leiden. Aber sie meint es gut, und es war auch nicht recht, daß wir in den
            Wald gingen.«
            So kam der Einsegnungstag, Ende September, und den Sonntag darauf war Abendmahl,
            an dem alle Mitglieder des Hauses teilnahmen. Alle zeigten sich in gehobener Stimmung,
            der alte Jacob Minde aber, trotzdem er nur mit Mühe den Kirchgang gemacht hatte, war
            mitteilsamer denn seit lange, plauderte viel von seiner Jugend und seinem Alter und
            sprach auch abwechselnd und ohne Scheu von Gerdts und von Gretens Mutter, als ob
            kein Unterschied wäre. Trud und Gerdt sahen dabei einander an, und was in ihren Blicken
            sich ausgesprochen hatte, das sollte sich anderntags bestätigen. Denn in aller Frühe
            schon lief es durch die Stadt, daß der alte Ratsherr auf den Tod liege, und als um die
            sechste Stunde der Schein der niedergehenden Sonne drüben an den Häuserfronten
            glühte, bat er Reginen, daß sie die Vorhänge zurückschieben und die Kinder rufen solle.
            Und diese kamen, und Grete nahm seine Hand und küßte sie. Gleich darauf aber winkte
            der Alte seine Schwieger zu sich heran und sagte: »Ich lege sie dir ans Herz, Trud.
            Erinnere dich allezeit an die Mahnung des Propheten: ›Laß die Waisen Gnade bei dir
            finden.‹ Erinnere dich daran und handle danach. Versprich es mir und vergiß nicht diese
            Stunde.« Trud antwortete nicht, Grete aber warf sich auf die Knie und schluchzte und
            betete, und ehe sie ihren Kopf wieder aufrichtete, war es still geworden in dem kleinen
            Raum.


            Am dritten Tage danach stand der alte Minde hoch aufgebahrt in Sankt Stephan, der
            tangermündischen   Hauptkirche,   die,   nach  Art   mittelalterlicher   Gotteshäuser,   hart   am
            Rande der Stadt gelegen war. Auf dem Altar brannten die großen Kerzen, und ringsumher
            saßen die Ratmannen der Stadt, obenan der alte Peter Guntz, der nicht geglaubt hatte,
            seinen so viel jüngeren Freund überleben zu müssen. Keiner fehlte; denn die Mindes
            waren   das   älteste   Geschlecht   und   das   vornehmste,   wirkliche   Kaufherren,   und   seit
            Anbeginn   im   Rate   der   Stadt.   In   nächster   Nähe   des   Sarges   aber   standen   die
            Leidtragenden. Gerdt sah vor sich hin, stumpf wie gewöhnlich, während Trud und Grete,
            schwarz und in wollene Stoffe gekleidet, zum Zeichen ihrer tiefsten Trauer bis über Kinn
            und Mund hinauf hohe weiße Tücher trugen, die nur den Oberkopf frei ließen. Grete, kaum
            fünfzehn   Jahr,   sah   um   vieles   älter   aus,   als   sie   war,   und   alles   Kindliche,   das   ihre
            Erscheinung bis dahin gehabt hatte, schien mit diesem Tage von ihr gewichen.
            Die Orgel spielte, die Gemeinde sang, und als beide schwiegen, trat Gigas aus der
            Sakristei und schritt auf die Altarstufen zu. Er schien noch ernster als gewöhnlich, und sein
            Kopf mit dem spärlichen weißen Haar sah unbeweglich über die hohe Radkrause hinweg.
            Und nun begann er. Erst hart und herbe, wie fast immer die Strenggläubigen, wenn sie
            von Tod und Sterben sprechen; als er aber das Allgemeine ließ und vom Tod überhaupt
            auf diesen Toten kam, wurd er warm und vergaß aller Herbigkeit. Er, dessen stummes
            Antlitz hier spräche, so hob er mit immer eindringlicher werdender Stimme an, sei ein
            Mann gewesen wie wenige, denn er habe beides gehabt, den Glauben und die Liebe. Da
            sei keiner unter ihnen, an dem er seine Liebe nicht betätigt habe; der Arme habe seine
            Mildtätigkeit, der Freund seine Hülfe, die Bürgerschaft seinen Rat erfahren, und seine
            klugen   und   feinen   Sitten   seien   es   gewesen,   die   bis   nach   Lübeck   und   bis   in   die
            Niederlande hin das Ansehen der Stadt auf die jetzige Höhe gehoben hätten. Dies wüßten
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