Page 56 - Der Darwinismus als soziale Waffe
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Skrupellose Kolonialpolitik
Wie sehr die Kolonialherren den Ideen des Sozialdarwinismus verhaftet waren, zeigte sich in der Politik, die sie
gegenüber der einheimischen Bevölkerung in den Kolonien betrieben. Die dort tätigen Kolonialverwaltungen betra-
chteten die dort lebenden Menschen nicht als Menschen, sondern als primitive, menschliche Übergangsformen,
denen sie nichts als Leiden, Zerstörung und Unglück brachten. Der Sozialdarwinismus war dabei eine treibende
Kraft, weil er der rücksichtslosen Politik in den Kolonien eine ideologische Legitimation gab. Das Gefühl, einer
überlegenen Rasse anzugehören, steigerte noch ihre Aggressivität und Gier.
Ein aufschlussreiches Beispiel dafür sind die Opiumkriege in China. In den 1800er Jahren begann Großbritannien,
Opium an China zu verkaufen, obwohl Produktion, Verkauf und Verbrauch von Opium in Großbritannien selbst ver-
boten waren. So gelang es der herrschenden Klasse Großbritanniens, die ihre eigene Bevölkerung vor diesem Gift
schützte, große Teile der chinesischen Bevölkerung opiumabhängig zu machen. Nachdem sein eigener Sohn an seiner
Opiumsucht gestorben war, beschloss der Kaiser von China, die britischen Opiumimporte zu stoppen und schickte
seinen Gesandten Lin Zexu (Lin Tse-Hsü) nach Kanton, dem größten Hafen der East India Company, um das Ende der
Opiumimporte herbeizuführen. Da die britischen Opiumhändler dazu nicht bereit waren, ließ Lin Zexu die
Opiumlagerhallen schließen. Darauf reagierten die Briten sofort mit einer militärischen Intervention. Die Chinesen
wurden in die Flucht geschlagen und zu einem demütigendem Vertrag gezwungen, demzufolge der Opiumhandel als
legal galt. Lin Zexu verlor sein Regierungsamt und wurde ins Exil geschickt.
Die Portugiesen wiederum demonstrierten ihre “rassische Überlegenheit“ dadurch, dass sie Eingeborene zu
ihren Sklaven machten. Sie nahmen in ihrer Kolonie die Einheimischen von Angola gefangen, transportierten sie
nach Amerika und verkauften sie dort als Sklaven, “Kontraktarbeiter auf fünf Jahre“ genannt. Aber nur wenige von
ihnen lebten in der Neuen Welt lange genug, um wieder in ihre Heimat zurückkehren zu können. 70 In den meisten
Kolonien raubten die Kolonialherren Ländereien und Rohstoffe, wie es ihnen beliebte und übertrugen die Rechte an
Siedler oder Handelsgesellschaften aus ihren jeweiligen Ländern. Um die einheimische Bevölkerung, die ihr Land
verlor, scherten sie sich nicht, sondern beuteten deren Arbeitskraft, Produkte und Rohstoffe schamlos aus.
Aus ihren Kolonien verschifften die Briten Halbprodukte, wie Baumwolle, Tee und Erze, nach Großbritannien,
ließen sie dort weiterverarbeiten und schickten sie dann wieder für teures Geld zurück in die Kolonien. Baumwolle
aus Indien wurde in Großbritannien weiterverarbeitet, während der Baumwollhandel in Indien selbst verboten war.
Deshalb war Indien gezwungen, “britische“ Baumwolle zu kaufen. Ebenso durften die Inder nur “britisches“ Salz
kaufen.
Eine weitere Methode des Neo-Imperialismus bestand darin, die Herrscher in den kolonialisierten Ländern re-
spektlos und verächtlich zu behandeln. Früher, zu Zeiten von Elizabeth I. oder noch Napoleons, waren die
Kolonialbeamten mit ihnen achtungsvoll umgegangen. Die falsche Vorstellung der rassischen Überlegenheit
gewann erst im 19. Jahrhundert in Europa die Oberhand und führte zu Skrupellosigkeit und Überheblichkeit.
Die darwinistisch geprägten Imperialisten hielten ihre Kolonialherrschaft für die logische Konsequenz ihrer ras-
sischen Überlegenheit gegenüber “minderwertigen“, “unterentwickelten“ Rassen. Für sie war es deshalb zwin-
gend, dass sich die überlegene Rasse über die ganze Erde ausbreiten müsse. Und wenn “primitive“ Rassen dem
Fortschritt der Menschheit im Weg standen, mussten die “minderwertigen“ Menschen eben “verbessert“ werden.
Deshalb waren die Imperialisten ernsthaft überzeugt, den Menschen in den Kolonien die Zivilisation bringen zu
müssen. Aber ihre Politik und ihr Verhalten in den Kolonien entsprachen diesem angeblich hehren Ziel in keiner
Weise. Stattdessen brachten sie, weil den sozialdarwinistischen Ideen verpflichtet, nur Chaos, Konflikt, Furcht und
Demütigung mit sich statt Wohlbefinden, Glück und Zivilisation. Die wenigen Wohltaten, die sie den Menschen in
den Kolonien brachten, wurden weit übertroffen von ihren Schandtaten.
Deutlicher als in den folgenden Worten von Karl Pearson kann man die Inhumanität ihrer im Darwinismus
wurzelnden Haltung nicht ausdrücken:
“Dieser Kampf bringt Leiden mit sich, sehr viel Leiden, während er vor sich geht. Aber dieser Kampf und diese
Leiden sind notwendige Phasen, die der weiße Mann durchschreiten muss, um seinen heutigen Entwicklungsstand
zu halten und zu steigern. Nur dadurch hat er es bisher geschafft, nicht länger in Höhlen zu wohnen und sich von
Wurzeln und Nüssen zu ernähren. Diese Beziehung von Fortschritt und Überleben der überlegeneren Rasse, so
düster sie manchen auch erscheinen mag, verleiht dem Kampf ums Dasein sein ausgleichendes Recht. Es ist der
glühende Schmelztiegel, in dem das edlere Metall entsteht. Man darf durchaus auf eine Zeit hoffen, in der Schwerter
zu Pflugscharen werden, in der amerikanische, deutsche und englische Kaufleute nicht mehr konkurrieren auf den
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