Page 1002 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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welchen von beiden Wegen er einschlägt, wenn er nur tapfer ist und
                seine Tapferkeit ihm Ansehen in der Welt verschafft. Ist seine Tapferkeit
                groß, wie bei Scipio und Hannibal, so löscht sie alle Fehler aus, die er

                begeht, um sich beliebt zu machen oder zu viel Furcht einzuflößen.
                Beides kann nämlich große Nachteile haben und einen Fürsten wohl
                zugrunde richten. Denn wer sich zu beliebt zu machen sucht, wird bei
                der geringsten Übertreibung verächtlich, und wer zu sehr danach strebt,
                gefürchtet zu werden, macht sich, wenn er irgend zu weit geht, verhaßt.
                Die rechte Mittelstraße einzuhalten aber ist gegen unsre Natur. Man muß
                also das Übermaß durch ausnehmende Tüchtigkeit wieder ausgleichen,

                wie es Hannibal und Scipio taten. Dennoch war beiden ihr Verfahren
                ebenso schädlich, wie sie es groß gemacht hatte. Wie sie es emporhob,
                ist schon gesagt worden. Der Nachteil, der den Scipio traf, war, daß sich
                seine Soldaten in Spanien mit einem Teil seiner Verbündeten empörten,
                was nur daher kam, daß sie keine Furcht vor ihm hatten. Denn die
                Menschen sind so unruhig, daß sie bei der geringsten Aussicht, die sich

                ihrem Ehrgeiz eröffnet, sofort alle Liebe vergessen, die sie einem Fürsten
                wegen seiner Güte zugewandt hatten, wie es bei Scipios Soldaten und
                Verbündeten geschah. Und so mußte Scipio, um diesem Übel zu steuern,
                einen Teil der Härte brauchen, die er immer gemieden hatte.
                     Bei Hannibal findet man kein besonderes Beispiel dafür, daß ihm
                seine Grausamkeit und Treulosigkeit geschadet hätte. Doch kann man
                wohl annehmen, daß Neapel und viele andre Städte aus Furcht davor den

                Römern treu blieben. Wenigstens sieht man so viel, daß seine ruchlose
                Handlungsweise ihn den Römern verhaßter machte als irgendeinen
                andern Feind. Denn während sie dem Pyrrhus, der mit seinem Heer in
                Italien stand, den anzeigten, der ihn vergiften wollte, S. Buch III, Kap.
                20. verziehen sie selbst dem wehrlosen, flüchtigen Hannibal nicht und
                verfolgten ihn bis zum Tode. Diesen Nachteil zog sich Hannibal also

                dadurch zu, daß er für ruchlos, treulos und grausam gehalten wurde; aber
                es entsprang ihm daraus auch ein sehr großer, von allen Schriftstellern
                bewunderter Vorteil, daß in seinem, aus mannigfachen Völkerschaften
                zusammengesetzten Heere nie ein Zwiespalt noch eine Auflehnung
                gegen den Feldherrn entstand. Dies konnte nur von dem Schrecken
                kommen, der von seiner Person ausging und der im Verein mit der
                Achtung, die ihm seine Tapferkeit eintrug, Eintracht und Gehorsam bei

                seinen Soldaten aufrechterhielt. Nach Polybios, XI, 19, 4.
                     Ich ziehe also den Schluß, daß es nicht so sehr darauf ankommt, wie
                ein Feldherr auftritt, wenn er nur sehr tapfer ist und Strenge wie Milde
                recht zu gebrauchen weiß. Denn wie gesagt, sind Mängel und Gefahren





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