Page 1007 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Erwägt man also alles, was die Schriftsteller darüber sagen, so läßt
                sich schwer ein Urteil fällen. Um jedoch die Sache nicht unentschieden
                zu lassen, meine ich, daß für einen Bürger, der unter den Gesetzen einer

                Republik lebt, das Verfahren des Manlius löblicher und ungefährlicher
                ist. Es kommt allein dem Staat zugute und dient in keiner Weise dem
                Ehrgeiz eines Einzelnen, denn wenn man jeden gleich hart behandelt und
                nur das öffentliche Wohl im Auge hat, kann man sich keine persönlichen
                Freunde oder Parteigänger erwerben. Es gibt daher in einer Republik
                nichts Nützlicheres und Achtenswerteres, als eine solche
                Handlungsweise, denn sie schadet dem öffentlichen Wohl nicht, und es

                kann kein Verdacht gegen Privatgewalt aufkommen. Mit der
                Handlungsweise des Valerius verhält es sich umgekehrt. Denn ist ihre
                Wirkung für die Öffentlichkeit auch die gleiche, so entstehen doch viele
                Bedenken wegen der besonderen Zuneigung, die der Feldherr sich bei
                den Soldaten erwirbt und die bei längerem Oberbefehl der Freiheit
                verderblich werden kann. War das aber bei Valerius nicht der Fall, so

                kam das einzig daher, daß die Denkart der Römer noch unverderbt war
                und daß er nicht lange und ununterbrochen den Oberbefehl führte.
                     Haben wir aber, wie Xenophon, einen Fürsten im Auge, so werden
                wir ganz auf Seiten des Valerius treten und von Manlius abgehen, denn
                ein Fürst muß bei seinen Soldaten und Untertanen Gehorsam und Liebe
                suchen. Gehorsam verschafft ihm die Beobachtung der Verfassung und
                der Ruf der Tapferkeit. Liebe erwirbt er sich durch Herablassung,

                Leutseligkeit und Milde und die übrigen Eigenschaften, die Valerius
                besaß und die Xenophon dem Kyros zuschreibt. In der Kyropädie. Vgl.
                auch Herodian, I, 4, wo der sterbende Mark Aurel den Commodus zu
                Güte und Menschlichkeit ermahnt; Seneca, De Clementia, I, 8, und
                Diodor, XXVII, 18. S. auch Buch III, Kap. 19, Anm. 107, und Kap. 20,
                letzter Absatz dieses Werkes. Denn wenn ein Fürst persönlich beliebt ist

                und seine Soldaten an ihm hängen, so verträgt sich das durchaus mit der
                Verfassung einer Monarchie. Hängt aber das Heer an einem Bürger, so
                verträgt sich das nicht mit der Verfassung eines Freistaats, die Gehorsam
                gegen Gesetz und Obrigkeit fordert.
                     In der ältern Geschichte der Republik Venedig liest man folgendes.
                Nach der Rückkehr der Galeeren brach zwischen der Bemannung und
                dem Volke ein Streit aus, der zu Aufruhr und Blutvergießen führte und

                der sich weder durch die öffentliche Gewalt noch durch die Ehrfurcht
                vor angesehenen Bürgern, noch durch die Furcht vor der Regierung
                beilegen ließ. Da erschien vor den Seeleuten ein Edelmann, der im Jahre
                zuvor Admiral gewesen war, Pietro Loredan. und sofort stellten sie aus





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