Page 1012 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Fünfundzwanzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                            Von der Armut des Cincinnatus und vieler Römer.


                Wir haben andernorts gesagt, wie nützlich es in einem Freistaat ist, die
                Bürger arm zu erhalten. Es ist zwar recht klar, durch welche Einrichtung
                dies in Rom geschah, zumal das Ackergesetz so großen Widerstand fand,
                aber die Erfahrung zeigte doch, daß noch 400 Jahre nach der Gründung
                Roms die größte Armut herrschte. Vermutlich trug keine besondere

                Anordnung dazu bei, sondern die Erkenntnis, daß Armut keinem den
                Weg zu Amt und Würden versperrte und daß man das Verdienst
                aufsuchte, unter welchem Dach es auch wohnte. Das macht den
                Reichtum weniger begehrenswert, wie man deutlich aus folgendem
                Beispiel ersieht.

                     Als der Konsul Minucius mit dem Heer von den Aequern
                eingeschlossen war und Rom fürchtete, das Heer möchte verlorengehen,
                schritt es in seiner Bedrängnis zu dem letzten Mittel, der Ernennung
                eines Diktators. Die Wahl fiel auf Lucius Quinctius Cincinnatus, der sich
                damals auf seinem kleinen Landgut aufhielt, das er mit eigner Hand

                bebaute. Livius preist dies mit den goldnen Worten: Operae pretium
                est audire, qul omnia prae divittis humana spernunt, neque
                honori magno locum neque virtuti putant esse, nisi effuse
                affluant opes. III, 26 (458 v. Chr.) (Es ist der Mühe wert, daß die
                aufmerken, welche alles, was der Mensch besitzen kann, gegen den
                Reichtum verachten und meinen, für große Ehre und Tugend sei nur da
                der Ort, wo Schätze reichlich zusammenströmen.) Cincinnatus pflügte
                gerade seinen Acker, der nicht über vier Morgen groß war, als die

                Abgesandten des Senats zu ihm kamen, um ihm zu sagen, daß er zum
                Diktator ernannt sei und daß Rom in großer Gefahr schwebe. Er nahm
                seine Toga, ging nach Rom, sammelte ein Heer und zog dem Minucius
                zu Hilfe. Als er die Feinde geschlagen, ihr Lager geplündert und den
                Minucius befreit hatte, wollte er nicht, daß das eingeschlossene Heer an
                der Beute teilnehme, und sagte zu ihm: »Ihr solltet nicht an der Beute

                derer teilhaben, deren Beute ihr selbst fast geworden wäret.« Den Konsul
                Minucius setzte er ab und machte ihn zum Legaten mit den Worten: »Du
                wirst so lange Legat bleiben, bis du gelernt hast, Konsul zu sein.« Zu
                seinem Reiterobersten hatte er den Lucius Tarquitius ernannt, der aus




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