Page 1038 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 1038

einer Republik oder eines Fürsten sich stets in der Verlegenheit befinden,
                entweder gegen ihre Pflicht zu verstoßen, wenn sie nicht ohne Rücksicht
                zu dem raten, was ihnen für den Staat oder für den Fürsten nützlich

                erscheint, oder wenn sie dazu raten, ihr Leben und ihre Stellung aufs
                Spiel zu setzen. Denn die Menschen sind nun mal so blind, daß sie guten
                und schlechten Rat nach dem Erfolge beurteilen. Wenn ich nun überlege,
                wie man dieser Schande oder dieser Gefahr entgehen kann, so sehe ich
                keinen andern Ausweg, als die Dinge mit Maß zu betreiben, nie etwas
                ganz auf sich zu nehmen, seine Meinung ohne Leidenschaft zu sagen und
                sie mit solcher Bescheidenheit zu verteidigen, daß der Staat oder der

                Fürst, wenn er sie befolgt, dies freiwillig tut und es nicht den Anschein
                hat, als würde er durch das ungestüme Drängen des Ratgebers dazu
                gezwungen. Wenn man so handelt, ist nicht anzunehmen, daß ein Fürst
                oder ein Volk dem Ratgeber grollt, da sein Rat ja nicht gegen den Willen
                vieler befolgt wurde. Denn Gefahr läuft man nur da, wo viele
                widersprochen haben, die sich bei einem unglücklichen Ausgang zum

                Untergang des Ratgebers vereinigen. Kommt man auf diese Weise auch
                um den Ruhm, den man beim Gelingen einer Sache erntet, zu der man
                allein gegen viele geraten hat, so ist doch auch zweierlei Gutes dabei.
                Erstens keine Gefahr; zweitens gereicht es dir zur höchsten Ehre, wenn
                du bescheiden zu etwas geraten hast, dein Rat aber infolge des
                Widerspruchs nicht angenommen wird und aus dem Rat eines andern
                Unheil entsteht. Kann man sich auch über den Ruhm nicht freuen, den

                man durch das Unglück seiner Stadt oder seines Fürsten erwirbt, so ist er
                doch nicht ganz zu unterschätzen.
                     Einen andern Rat kann man, glaube ich, in dieser Hinsicht nicht
                geben; denn riete man einem, zu schweigen und seine Meinung gar nicht
                zu sagen, so würde er damit seiner Republik oder seinem Fürsten nichts
                nützen und trotzdem der Gefahr nicht entgehen. Denn er würde bald

                verdächtigt werden, und es könnte ihm ergehen wie einem Freunde des
                Königs Perseus von Mazedonien. Als dieser nämlich von Aemilius
                Paullus geschlagen war S. Seite 2, Anm. 3. und mit wenigen Freunden
                floh, begann einer von ihnen bei der Betrachtung des Geschehenen dem
                Perseus viele Fehler vorzurechnen, die zu seinem Sturze geführt hatten.
                Perseus wandte sich mit den Worten zu ihm: »Verräter, hast du bis jetzt
                gezögert, mir das zu sagen, wo ich keine Mittel mehr dagegen habe!«

                Und er tötete ihn mit eigner Hand. So büßte dieser dafür, daß er
                geschwiegen hatte, als er hätte reden müssen, und daß er sprach, als er
                hätte schweigen sollen, und er entging dadurch, daß er keinen Rat







                                                         1037
   1033   1034   1035   1036   1037   1038   1039   1040   1041   1042   1043