Page 602 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Besitz und dessen Nutznießung, worauf diese, nach dem Gebote der
                Natur, zu ihrer Ernährung angewiesen wären, vorenthält.
                     Wenn eine der Städte eine solche Kalamität betroffen hat, daß ihre

                Bevölkerung aus den übrigen Städten, ohne daß die Einwohnerschaft
                einer derselben unter das vorgeschriebene Maß vermindert würde, nicht
                ergänzt werden kann (was bisher bloß zweimal seit Anbeginn der
                Landesgeschichte der Insel in Folge einer gräulich wüthenden Pest sich
                zugetragen haben soll), so wandern die Bürger aus der Kolonie ins
                Mutterland zurück und füllen die Lücken aus. Denn eher lassen sie die
                Kolonie eingehen, als einer der Inselstädte Gefahr der Entvölkerung

                drohen.
                     Doch ich kehre zum Zusammenleben der Bürger zurück. Der
                Aelteste steht (wie ich gesagt habe) der Familie vor. Die Gattinnen
                dienen den Ehemännern, die Kinder den Eltern, überhaupt die Jüngeren
                den Aelteren.
                     Jede Stadt ist in vier gleiche Abtheilungen getheilt. In der Mitte jeder

                Abtheilung ist ein allgemeiner Markt. Dorthin werden in gewisse
                Gebäude die Arbeitsprodukte aller Familien gebracht, dann werden die
                verschiedenen einzelnen Gattungen in Magazine sortirt gelagert. Von
                dort holt jeder Familienvater, was er und die Seinen nöthig haben, und
                nimmt es ohne Geld und ohne irgendwelche Gegenleistung an sich.
                Denn warum sollte ihm etwas verweigert werden? Da ja alle Dinge in
                Ueberfluß vorhanden sind und der Befürchtung nicht Raum gegeben

                wird, daß Jemand mehr als er bedarf, verlangen werde. Denn warum
                sollte man annehmen, daß Jemand Ueberflüssiges fordern werde, wenn
                er sicher ist, daß er in keinem Augenblicke irgend einer Sache ermangeln
                werde? Habgierig und raubsüchtig macht alle Lebewesen die Furcht vor
                künftiger Entbehrung, oder, bei den Menschen allein, auch noch der
                Hochmuth, durch das Prunken mit überflüssigen Dingen, deren Besitz

                sie sich zur Ehre anrechnen, sich vor den Andern hervorzuthun, eine Art
                des Lasters, dessen Entwickelung durch die utopischen Einrichtungen
                von vornherein abgeschnitten ist.
                     Den erwähnten Märkten schließen sich Lebensmittelmärkte an, nach
                denen nicht nur Gemüse, Baumfrüchte und Brod, sondern auch Fische
                und alles Eßbare von Säugethieren und Geflügel geschafft wird, die an
                passenden Orten errichtet sind, wo durch Flußwasser aller Schmutz und

                Unrath weggespült wird.
                     Dorthin werden die von den Knechten geschlachteten und
                gereinigten Thiere gebracht (denn ihre Bürger sollen sich nicht an das
                Schlächterhandwerk gewöhnen, wodurch, wie sie der Ansicht sind, das





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