Page 756 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
P. 756

Fünfundzwanzigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                    Wer einem alten Staat eine freie Verfassung geben will, behalte
                           wenigstens den Schatten der alten Einrichtungen bei.


                Will man einem Staat eine neue Verfassung geben, und soll diese
                Neuerung angenommen und zur Zufriedenheit eines jeden erhalten
                werden, so muß man unbedingt einen Schatten der alten Einrichtungen
                beibehalten, damit die Staatsordnung dem Volk unverändert erscheint,

                auch wenn sie völlig verändert ist. Denn die Mehrzahl der Menschen läßt
                sich mit dem Schein so gut abspeisen wie mit der Wirklichkeit, ja oft
                wird sie mehr durch den Schein als durch die Dinge selbst bewegt. Die
                Römer erkannten diese Notwendigkeit schon im Beginn ihres
                Freistaates. Als sie daher an Stelle des Königs zwei Konsuln gesetzt

                hatten, erlaubten sie diesen nicht mehr als zwölf Liktoren, so viel wie die
                Könige gehabt hatten. Da ferner in Rom alljährlich ein Opfer stattfand,
                das nur der König in eigner Person darbringen durfte, und die Römer
                nicht wollten, daß das Volk einen der alten Bräuche vermißte, ernannten
                sie für dies Opfer einen besonderen Opferkönig und ordneten ihn dem
                Oberpriester unter. Damit blieb das Volk im Genuß des Opferfestes und
                hatte niemals Veranlassung, wegen seines Fehlens die Rückkehr der

                Könige zu wünschen.
                     Dies muß man stets beachten, wenn man in einem Staate eine alte
                Regierungsform abschaffen und dafür eine neue freie Verfassung
                einführen will. Denn alles Neue erregt die Gemüter der Menschen; man
                muß also dafür sorgen, daß die Veränderungen soviel wie möglich vom
                Alten bewahren, und wenn die neue Obrigkeit an Zahl, Gewalt und

                Amtsdauer von der alten abweicht, wenigstens die Namen beibehalten.
                Das gilt, wie gesagt, sowohl für die Umwandlung eines Staates in ein
                Königreich wie in eine Republik. Wer aber eine absolute Monarchie,
                eine sogenannte Tyrannis aufrichten will, der muß alles verändern, wie
                im nächsten Kapitel gezeigt werden soll.














                                                          755
   751   752   753   754   755   756   757   758   759   760   761