Page 760 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Achtundzwanzigstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Aus welchem Grunde Rom gegen seine Bürger weniger undankbar
war als Athen.
Wer die Geschichte der Republiken liest, wird bei allen Proben von
Undankbarkeit gegen ihre Bürger finden, und zwar in Rom weniger als
in Athen und vielleicht in jeder anderen Republik. Der Grund für diese
Verschiedenheit liegt nach meiner Meinung darin, daß die Römer
weniger Ursache hatten, ihren Mitbürgern zu mißtrauen als die Athener.
Denn in der Zeit von der Vertreibung der Könige bis zu Sulla und Marius
wurde Rom nie von einem seiner Bürger der Freiheit beraubt; es hatte
also keine große Ursache, ihnen zu mißtrauen und sie folglich unbedacht
zu kränken. Das Gegenteil trat in Athen ein. In der Zeit seiner höchsten
Blüte ward es durch Pisistratus unter einem falschen Schein von Tugend
seiner Freiheit beraubt, und so erinnerte es sich, sobald es wieder frei
wurde, der erlittenen Unbill und Knechtschaft und rächte sich fortan
bitter, nicht nur an den Vergehen seiner Bürger, sondern schon am
Schatten eines Vergehens. Daher die Verbannung und der Tod so vieler
vortrefflicher Männer, daher die Einrichtung des Scherbengerichts und
jede andre Gewalttat, die Athen zu verschiedenen Zeiten gegen seine
vornehmen Bürger beging.
Sehr wahr sagen die politischen Schriftsteller, daß die Völker
bissiger sind, wenn sie die Freiheit wiedererlangt, als wenn sie sie
bewahrt haben. Erwägt man das eben Gesagte, so wird man Athen nicht
tadeln und Rom nicht loben, sondern für die Verschiedenheit der
Ereignisse in beiden Städten allein dem Zwange der Dinge die Schuld
geben. Denn wer die Dinge sorgfältig prüft, wird einsehen, daß Rom,
wäre es wie Athen seiner Freiheit beraubt worden, auch nicht gerechter
gegen seine Bürger gewesen wäre als dieses. Am sichersten läßt sich das
aus dem Schicksal des Collatinus und des Publius Valerius nach der
Vertreibung der Könige schließen. Vgl. Livius II, 2, 7. Der erstere wurde,
obwohl er zur Befreiung Roms beigetragen hatte, nur aus dem Grunde
verbannt, weil er den Namen der Tarquinier führte, der zweite wurde
beinahe verbannt, weil er sich ein Haus auf dem Mons Coelius erbaut
und schon dadurch Verdacht erregt hatte. Sieht man, wie mißtrauisch und
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