Page 753 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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weiß ja nicht, wann der Feind kommt, und kann sich, wie gesagt, nicht
                für längere Zeit in engen, unfruchtbaren Gegenden halten. Geht aber der
                Paß verloren, den man halten wollte und auf den das Volk und das Heer

                sich verließ, so bemächtigt sich beider meist ein solcher Schrecken, daß
                man besiegt wird, ohne die Tapferkeit des Heeres auf die Probe zu
                stellen, und so mit einem Teil seiner Streitkräfte alles verliert.
                     Jedermann weiß, mit welchen Schwierigkeiten Hannibal die Alpen
                überschritt, die Frankreich von der Lombardei trennen, und den Apennin,
                der die Lombardei von Toskana scheidet. Nichtsdestoweniger erwarteten
                ihn die Römer erst am Tessin und dann in der Ebene von Arezzo. Am

                Trasimenischen See südlich Arezzo, Vgl. Livius XXI f. Sie wollten sich
                lieber da einer Niederlage aussetzen, wo ein Sieg möglich war, als das
                Heer in die Alpen hinaufführen, wo es durch die Ungunst der Gegend
                vernichtet worden wäre. Bei aufmerksamem Lesen der Weltgeschichte
                wird man nur sehr wenige tüchtige Feldherren finden, die dergleichen
                Pässe zu halten versucht haben, teils aus den angeführten Gründen, teils

                weil sich nicht alle sperren lassen. Denn im Gebirge wie in der Ebene
                gibt es nicht nur die gewohnten und betretenen Straßen, sondern auch
                viele andre Wege, die zwar nicht den Fremden, aber den Einheimischen
                bekannt sind, und mit ihrer Hilfe kann man stets gegen den Willen des
                Verteidigers durchkommen. Dafür liefert das Jahr 1515 ein ganz frisches
                Beispiel.
                     Als König Franz I. von Frankreich einen Zug nach Italien plante, um

                die Lombardei zurückzuerobern, Die Könige Karl VIII. und Ludwig XII.
                hatten vergeblich versucht, sich in Italien zu behaupten. Franz I. gewann
                1515 die Lombardei durch die Schlacht bei Marignano, verlor sie aber
                nach wechselvollen Kämpfen 1525 durch die Schlacht bei Pavia.
                verließen die Gegner seiner Unternehmung sich hauptsächlich darauf,
                daß die Schweizer ihn in den Alpen aufhalten würden. Der Ausgang

                zeigte indes, daß ihre Rechnung falsch war, denn der König umging ein
                paar der von ihnen besetzten Punkte, schlug einen unbekannten Weg ein
                und war in Italien und ihnen im Nacken, ehe sie es gemerkt hatten.
                Voller Schrecken zogen sie sich nun nach Mailand zurück, und die ganze
                Lombardei ergab sich den Franzosen, da ihre Hoffnung, sie würden im
                Gebirge festgehalten werden, zuschanden geworden war.
















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