Page 774 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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nichts zum Schaden des Staates tun, z. B. dem Staat oder dem Volk seine
Macht nehmen, die alten Einrichtungen der Stadt abschaffen und neue
einführen. Es war also bei der kurzen Dauer seiner Diktatur, seiner
beschränkten Macht und der Unverdorbenheit des römischen Volkes
unmöglich, daß er je seine Grenzen überschritt und den Staat schädigte;
vielmehr zeigt die Erfahrung, daß er ihm stets nützte. In der Tat verdient
die Diktatur unter den römischen Einrichtungen besondere Beachtung;
sie war eine der Ursachen für die Größe des Reiches.
Ohne ähnliche Einrichtungen überstehen die Städte nur schwer
außerordentliche Ereignisse. Der gewöhnliche Geschäftsgang ist in
Republiken schleppend; denn kein Rat, keine Behörde kann allein alles
erledigen, vielmehr sind sie in vielem aufeinander angewiesen. Bis man
so viele Willensmeinungen unter einen Hut gebracht hat, vergeht die
Zeit, und so entsteht bei unaufschiebbaren Sachen die größte Gefahr.
Darum müssen die Republiken Einrichtungen nach Art der Diktatur
haben. Die Republik Venedig, die unter den neueren hervorragt, hat
einigen Bürgern das Recht vorbehalten, in dringenden Fällen ohne
weitere Beratung einstimmige Beschlüsse zu fassen. Der gefürchtete Rat
der Zehn wurde 1310 nach der Verschwörung des Bajamonte Tiepolo
eingesetzt. Fehlt eine solche Einrichtung in einer Republik, so muß sie
bei Beobachtung der Gesetze zugrunde gehen oder sie brechen, um dies
zu verhüten. Nie aber sollte in einer Republik etwas vorkommen, wobei
man sich ungesetzlicher Mittel bedienen muß. Bringt auch das
ungesetzliche Mittel für den Augenblick Nutzen, so bringt das Beispiel
doch Schaden; denn wenn es Brauch wird, die Verfassung zu guten
Zwecken zu brechen, bricht man sie schließlich auch unter diesem
Vorwand zu schlimmen Zwecken. Eine Republik wird somit niemals
vollkommen sein, wenn in ihren Gesetzen nicht alles vorgesehen, nicht
für jedes Ereignis eine Abhilfe und die Art ihrer Anwendung bestimmt
ist. Ich ziehe daher den Schluß: Die Republiken, die in dringender
Gefahr nicht zur Diktatur oder zu einer ähnlichen Gewalt ihre Zuflucht
nehmen, werden bei schweren Ereignissen stets zugrunde gehen.
Bei dieser neuen Einrichtung ist noch zu bemerken, wie weise die
Römer die Art der Wahl angeordnet haben. Die Ernennung eines
Diktators war ja stets mit einiger Beschämung für die Konsuln
verbunden, weil sie als Häupter der Stadt sich ihm so gut wie alle andern
unterwerfen mußten. Da man voraussah, daß dies bei den Bürgern
Unwillen erregen würde, so ließ man den Diktator durch die Konsuln
ernennen, denn man meinte, wenn ein Ereignis diese königliche Macht
erforderlich machte, würden sie es freiwillig tun und es würde ihnen
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