Page 770 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Dreiunddreißigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                  Ist ein Mißstand in einem Staate groß geworden oder Gefahr gegen
                  ihn im Anzüge, so ist es heilsamer, die Zeit abzuwarten, als Gewalt
                                                    zu brauchen.


                Als die römische Republik an Ansehen, Macht und Herrschaft zunahm,
                begannen die Nachbarn, die anfangs nicht bedacht hatten, wie gefährlich
                ihnen die neue Republik werden könnte, ihren Irrtum, wenn auch zu spät,

                einzusehen. Wohl vierzig Völker 498 v. Chr. Livius II, 18, spricht von 30
                Völkern. Der Konsul Titus Lartius wurde zum Diktator ernannt.
                verschworen sich gegen Rom, um das nachzuholen, was sie vordem
                versäumt hatten. Nun schritten die Römer unter anderen Maßregeln, die
                sie bei dringender Gefahr anzuwenden pflegten, zur Wahl eines

                Diktators, d. h. sie gaben einem Manne Gewalt, ohne irgendeine
                Beratung Beschlüsse zu fassen und sie ohne Berufung zu vollstrecken.
                Dies Mittel war damals nützlich und befreite sie aus drohenden
                Gefahren, es hat sich aber auch immer bei allen Gefahren als nützlich
                erwiesen, die der Republik während der Vergrößerung ihrer Herrschaft
                drohten.
                     Hierbei ist zunächst folgendes zu beachten. Ist ein Mißstand in einem

                Staate aus inneren oder äußeren Ursachen entstanden und wird er so
                groß, daß er jedermann Furcht einzuflößen beginnt, so ist es viel
                sicherer, die Zeit abzuwarten, als ihn mit Gewalt zu beseitigen. Denn
                sucht man ihn zu ersticken, so vergrößert man ihn nur und beschleunigt
                das Übel, das man von ihm befürchtet. In einer Republik entstehen
                solche Mißstände häufiger aus innern als aus äußern Ursachen, da sie oft

                einen Bürger mächtiger werden läßt als vernünftig ist, oder ein Gesetz,
                das den Lebensnerv der Freiheit bildet, mißbraucht wird und dies Übel
                so um sich greift, daß seine Beseitigung schädlicher wird als das
                Gehenlassen. Die Erkenntnis solcher Mißstände ist bei ihrem Entstehen
                um so schwerer, Aristoteles, Politik, VIII, 3, 2. Aristoteles rät freilich,
                das Übel sofort auszurotten. (Vgl. Politik, VIII, 7, und VII, 2, 10.) als es
                den Menschen stets natürlich erscheint, alle Dinge im Anfang zu

                begünstigen. Solche Begünstigungen sind besonders verhängnisvoll bei
                Handlungen, die an sich verdienstvoll erscheinen und von jungen Leuten





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