Page 769 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Zweiunddreißigstes Kapitel



                                                  Inhaltsverzeichnis






                     Republiken oder Fürsten dürfen Wohltaten, die sie dem Volke
                            erweisen, nicht auf die Zeiten der Not verschieben.


                Die Römer waren beim Herannahen der Gefahr freigebig gegen das Volk
                und hatten Erfolg damit, als Porsenna die Stadt belagerte und die
                Tarquinier wieder einsetzen wollte. Da der Senat fürchtete, das Volk
                möchte lieber die Könige wieder aufnehmen als den Krieg aushalten,

                erließ er ihm, um sich seiner zu versichern, die Salzsteuer und jede andre
                Abgabe mit der Begründung, die Armen täten genug für das öffentliche
                Wohl, wenn sie ihre Kinder aufzögen. Dank dieser Wohltat ertrug das
                Volk Belagerung, Hunger und Krieg. Im Vertrauen auf dies Beispiel
                verschiebe es jedoch niemand auf die Zeit der Gefahr, sich das Volk zu

                gewinnen, denn was den Römern gelang, wird ihm nie gelingen. Die
                Menge wird diese Wohltat nicht dir, sondern deinen Feinden anrechnen.
                Da es fürchten muß, du werdest ihm, wenn die Not vorüber ist, wieder
                nehmen, was du ihm notgedrungen gegeben hast, wird es keinerlei
                Dankbarkeit für dich fühlen. Wenn die Römer mit dieser Maßregel Glück
                hatten, so lag es daran, daß der Staat noch jung und noch nicht fest
                begründet war; auch hatte das Volk gesehen, daß schon vorher Gesetze

                zu seinen Gunsten gemacht worden waren, z. B. das der Berufung ans
                Volk. Gesetz des Publius Valerius Publicola (509 v. Chr.). Vgl. Livius II,
                8. Es konnte also glauben, die ihm gezeigte Wohltat sei nicht sowohl
                dem Anrücken der Feinde als der wohlmeinenden Gesinnung des
                Senates entsprungen. Überdies standen die Könige, die das Volk vielfach
                bedrückt und gekränkt hatten, noch in frischer Erinnerung. Da nun

                ähnliche Ursachen selten zusammentreffen, so werden auch ähnliche
                Mittel selten Erfolg haben. Darum muß jeder Leiter einer Republik und
                jeder Fürst vorher bedenken, welche schlimmen Zeiten kommen können
                und welche Menschen er dann nötig haben kann. Gegen diese muß er
                sich dann so benehmen, wie er es im Falle der Not für angezeigt hielte.
                Wer anders handelt, ein Fürst oder eine Republik, besonders aber ein
                Fürst, und sich im Augenblick der Gefahr einbildet, sich die Menschen

                durch Wohltaten gewinnen zu können, der täuscht sich. Er sichert sich
                dadurch nicht etwa, sondern er beschleunigt nur seinen Fall.





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