Page 776 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Fünfunddreißigstes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Warum in Rom die Einrichtung der Dezemvirn dem Staate
schädlich wurde, obwohl sie aus öffentlicher und freier Wahl
hervorgingen.
Dem obigen Grundsatz, daß die Gewalt, die jemand an sich reißt, nicht
aber die durch Abstimmung erteilte, den Republiken schädlich sei,
scheint die Wahl der zehn Männer 451 v. Chr. Vgl. Livius III, 33 ff. zu
widersprechen, die vom römischen Volke ernannt wurden, um Rom
Gesetze zu geben, mit der Zeit aber Tyrannen wurden und ihm
rücksichtslos seine Freiheit raubten. Man muß jedoch in Betracht ziehen,
welche Art von Gewalt und für wie lange sie erteilt wird. Eine
unbeschränkte Gewalt, die auf lange Zeit erteilt wird, d. h. für ein Jahr
oder mehr, wird immer gefährlich und ihre Folgen werden gut oder
schlimm sein, je nachdem ihre Träger gut oder schlimm sind. Vergleicht
man nun die Gewalt der zehn Männer mit der der Diktatoren, so wird
man die der zehn Männer unvergleichlich größer finden. War ein
Diktator ernannt, so blieben die Tribunen, die Konsuln, der Senat im
Amte, und der Diktator konnte es ihnen nicht nehmen. Hätte er auch
einen Konsul, einen Senator abgesetzt, so konnte er doch nicht den
ganzen Senat abschaffen und neue Gesetze geben. Senat, Konsuln und
Tribunen blieben also im Amt und wachten gleichsam darüber, daß er
nicht vom geraden Wege abwiche.
Bei der Ernennung der zehn Männer jedoch geschah das Gegenteil,
denn sie setzten die Konsuln und Tribunen ab und erhielten
gesetzgeberische Gewalt und die volle Volkssouveränität. Da sie so
allein standen, ohne Konsuln und Tribunen und ohne Berufung ans Volk,
mithin niemand da war, der über sie wachte, so konnten sie im zweiten
Jahre, vom Ehrgeiz des Appius gestachelt, ihre Macht mißbrauchen.
Wenn ich vorher behauptete, eine durch freie Wahl verliehene Macht
hätte noch nie einer Republik geschadet, so setzte ich dabei voraus, daß
ein Volk sich nie dazu hergibt, diese Macht anders als unter den
gehörigen Einschränkungen und auf die gehörige Zeit zu verleihen. Läßt
es sich aber durch Hinterlist oder andre Gründe verblenden und
verleiten, die Gewalt unbesonnen und in der Art zu verleihen, wie es bei
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