Page 995 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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keins der halbgeschlagenen Heere in sein Lager zurück, sondern jedes
                besetzte die nächsten Anhöhen, wo es sicher zu sein glaubte. Das
                römische Heer teilte sich, und der eine Teil folgte dem Konsul, der andre

                dem Centurio Tempanius, dessen Tapferkeit die Römer an diesem Tage
                vor dem Untergange gerettet hatte. Als der Morgen anbrach, rückte der
                Konsul, ohne weiter etwas vom Feinde zu hören, nach Rom ab, und das
                Heer der Aequer marschierte gleichfalls nach Hause. Da beide Teile
                glaubten, der Feind habe gesiegt, zogen sich beide zurück, ohne sich
                darum zu kümmern, ob ihr Lager dem Feinde zur Beute fiel. Auf dem
                Rückmarsch erfuhr Tempanius, der mit dem Rest des römischen Heeres

                abrückte, von einigen verwundeten Aequern, ihre Anführer seien
                abgezogen und hätten das Lager im Stich gelassen. Auf diese Nachricht
                kehrte er um und rettete das römische Lager, plünderte das aequische
                und kehrte als Sieger nach Rom zurück. Wie man sieht, hing dieser Sieg
                allein davon ab, wer zuerst die Verwirrung des Feindes erfuhr. Auf diese
                Weise kann es häufig vorkommen, daß zwei einander gegenüberstehende

                Heere sich in der gleichen Verwirrung befinden und die gleiche Not
                leiden, und daß der zuletzt Sieger bleibt, der zuerst die Not des andern
                erfährt. Ich will hierfür ein einheimisches Beispiel aus der neueren
                Geschichte anführen.
                     Im Jahre 1498 lagen die Florentiner mit einem starken Heer vor Pisa
                und bedrängten die Stadt hart. Die Venezianer, die Pisa in ihren Schutz
                genommen hatten und kein andres Mittel zu seiner Rettung sahen,

                beschlossen, eine Diversion zu machen und das Florentiner Gebiet von
                einer andern Seite anzugreifen. Sie drangen also mit einem starken Heere
                durch das Lamonatal ein, besetzten den Flecken Marradi und belagerten
                die Burg Castiglione, die weiter oberhalb auf einem Hügel liegt. Auf
                diese Nachricht beschlossen die Florentiner, Marradi zu Hilfe zu eilen,
                ohne jedoch ihre Truppen vor Pisa zu schwächen. Sie hoben also frisches

                Fußvolk und Reiterei aus und schickten sie unter Jacopo IV. von
                Appiano, dem Herrn von Piombino, und dem Grafen Rinuccio von
                Marciano dorthin. Als sie auf dem Flügel oberhalb Marradi anlangten,
                hoben die Venezianer die Belagerung von Castiglione auf und zogen sich
                sämtlich in den Flecken zurück. Beide Heere blieben sich einige Tage
                gegenüber stehen und litten an Lebensmitteln und allem sonst
                Notwendigen Mangel. Da nun keins das andre anzugreifen wagte und

                keins die Verlegenheit des andern kannte, faßten beide am selben Abend
                den Entschluß, am nächsten Morgen ihr Lager abzubrechen und sich
                zurückzuziehen, das venezianische auf Berzighella und Faënza, das
                florentinische auf Casaglia und den Mugello. Am nächsten Morgen, als





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