Page 990 - Philosophie und Politik: Staatstheorien von Platon, Cicero, Machiavelli und Thomas Morus (Vollständige deutsche Ausgaben)
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Sechzehntes Kapitel
Inhaltsverzeichnis
Wahres Verdienst sucht man nur in schwierigen Zeiten hervor; in
ruhigen Zeiten dagegen werden nicht die Verdienstvollen
vorgezogen, sondern die, welche sich auf Reichtum oder
Verwandtschaft stützen.
Es war stets so und wird stets so sein, daß die großen und seltenen
Männer in den Republiken in Friedenszeiten vernachlässigt werden.
Denn infolge des Neides, den sie sich durch den Ruhm ihrer Verdienste
zuziehen, wollen viele Bürger ihnen nicht gleichstehen, sondern mehr
sein als sie. Bei dem griechischen Geschichtsschreiber Thukydides VI, 9.
findet sich hierüber eine bezeichnende Stelle.
Als die Republik Athen im Peloponnesischen Kriege die Oberhand
behalten, den Stolz Spartas gebrochen und fast ganz Griechenland
unterworfen hatte, war sie so mächtig geworden, daß sie Sizilien erobern
wollte. In Athen wurde viel für und gegen diese Unternehmung geredet.
Vgl. Buch I, Kap. 53. Alkibiades und einige andre rieten dazu, da sie
wenig an das allgemeine Wohl, sondern an ihre eigne Ehre dachten und
den Oberbefehl bei dieser Unternehmung zu erhalten hofften. Nikias
aber, der angesehenste Mann in Athen, riet ab; und der Hauptgrund, den
er in seiner Rede ans Volk dafür anführte, daß es ihm Glauben schenken
könne, war der, daß sein Abraten für ihn selbst nicht vorteilhaft sei. Denn
er wüßte wohl, daß es im Frieden in Athen viele Bürger gäbe, die ihm
den Rang streitig machten, im Kriege aber würde kein Bürger ihm
überlegen oder auch nur gleich sein.
Man sieht also in den Republiken die üble Gewohnheit, daß sie
hervorragende Männer in ruhigen Zeiten wenig schätzen. Das muß diese
in doppelter Hinsicht erbittern, erstens, weil sie sich zurückgesetzt sehen,
und zweitens, weil sie unwürdige Leute, die weit unter ihnen stehen,
ihnen gleich- oder über sie gestellt sehen. Diese Unart hat in den
Republiken viel Unheil angerichtet; denn die Männer, die sich
unverdienterweise mißachtet sehen, wissen, daß die ruhigen und
gefahrlosen Zeiten die Schuld daran tragen, und geben sich daher alle
Mühe, diese Ruhe zu stören, indem sie den Staat zu seinem Schaden in
Kriege verwickeln.
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