Page 18 - Artemis_6
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               In ihr machte sich langsam dieses Gefühl der Ruhe, dieses Warten auf die
               Weihnacht, breit.
               In Gedanken versunken machte sie sich, bei einbrechender Dunkelheit, langsam
               auf den Heimweg. Etwas abseits von der Hauptstraße mit ihren bunten Lichtern,
               ging sie an Häusern vorbei, die ihr wie eingemummt schienen, als wären sie
               bedacht, dem eisigen Wind zu trotzen, ihre Bewohner mit wohliger Wärme zu
               umgeben. Die im Sommer so blumenreichen Vorgärten zeigten sich schmucklos
               und die Winterruhe wurde nur hin und wieder von einem beleuchteten
               Christbaum beinahe noch verstärkt.
               In einer kleinen Stadt kennt und begrüßt man einander, wann immer man
               aufeinander trifft, wechselt einige Worte und hat zumeist auch ein offenes Ohr
               für die Nöte und Sorgen des Anderen. Heute schien es Silke, als wären die ihr
               Begegnenden noch herzlicher, noch wärmer als sonst. Dennoch war alles leiser
               als gewohnt, so, als wolle keiner diese nahezu greifbare, wunderbare Ruhe des
               Advents stören.


               In diese gesegnete Stille hinein hörte die Frau ein seltsames Wimmern, leise,
               beinahe wie das Weinen eines Kindes. Sie sah sich überrascht um. Wo, um
               Gottes Willen, mochte hier heraußen, in der Kälte, ein Kind weinen?
               Vor ihr lag ein großes, unbebautes Feld. Silke schien es, als würde dieses
               Wimmern dort mitten heraus, aus dem hohen, verdorrten Gras, kommen.
               Vorsichtig, mit zaghaften Schritten, folgte sie den Lauten. Und da, inmitten der
               hohen Halme, sah sie es. Drei kleine Hundewelpen lagen hier, ausgesetzt,
               schmiegten sich eng aneinander und  fistelten mit ihren dünnen, kleinen
               Stimmen ihr herzzerreißendes Klagelied in die Nacht hinaus.
               Ich wollte, ich könnte beschreiben, wie es in diesem Moment in ihr aussah.
               Alles in ihr widerstrebte sich, zu glauben, daß es Menschen geben könne, die
               solch unschuldigen Tieren so etwas antun konnten. Mitnehmen, war Silkes erste
               Reaktion! Aber sofort wurde ihr bewußt, das dies nicht so einfach war. Weder
               war sie in der finanziellen Lage, plötzlich drei Hunde versorgen zu können, noch
               war ihre Wohnsituation für einen solchen Zuwachs geeignet. Innerhalb weniger
               Sekunden erwog sie verschiedene Möglichkeiten, um sie in derselben Zeit auch
               wieder zu verwerfen.
               Silke wußte, etwas tun zu müssen! Was das sein sollte, wußte sie allerdings
               nicht. Ihre Handlungen waren  nicht von Überlegung bestimmt, sondern sie eilte,
               wie eine Getriebene, zunächst einmal nach Hause, um einen Napf  mit Futter für
               die Kleinen zu besorgen. Atemlos erzählte sie ihrem Mann von dem Erlebten,
               um sich sofort dieselben Einwände anhören zu müssen, die sie sich selbst auch
               schon gesagt hatte.  Weinend füllte Silke, mit zitternden Händen,  Milch in eine
               Schüssel, bröckelte Weißbrot hinein und  streute Zucker darüber.

               Nahezu tränenblind  eilte sie zu ihren Schützlingen zurück. Mit großen Augen,
               voller Vertrauen, dessen Ursache die Frau nach deren schlimmen Erfahrungen
               nicht verstehen konnte, blickten ihr die Welpen entgegen.
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