Page 128 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 128
Einleitung in die allgemeine Theorie der Mannigfaltigkeiten
von Bewusstseinsinhalten.
Von
'
Gottl. Fi'iedr. Lipps.
(Leipzig.)
Das Wenige verschwindet leicht dem Blick,
Der vorwärts sieht, wie viel noch übrig bleibt.
Iphigenie.
I. Die Denkthätigkeit und der Denkgegenstaiid.
1.
Da ein Denkakt nicht anfangslos besteht, sondern ausgeführt
werden muss, und auch nicht ergebnisslos vergeht, sondern in seinem
Vollzuge Bestand hat, so ist an ihm die ausführende Thätigkeit, das
Denken, und der bleibende Erfolg der Thätigkeit, das Gledachte, zu
unterscheiden. Im Gedachten stellt sich, da es vorliegt und besteht,
der Gegenstand des Denkens dar. Der Gegenstand liegt aber nicht
von vorn herein bereit, um nachträglich durch das Denken auf-
gefunden und bearbeitet zu werden. Ebenso wenig steht das Denken
für sich allein, einen Gegenstand erzeugend oder eines, ihm in den
Weg tretenden Gegenstandes harrend, um sich desselben zu bemäch-
tigen und an ihm sich thätig zu erweisen. Vielmehr sind das Denken
und das Gedachte, die Thätigkeit und der Gegenstand des Denkens
nur im Denkakte vorhanden und untrennbar aneinander gebunden:
die Denkthätigkeit und der Denkgegenstand bedingen sich wechsel-
weise.
Es kann aber nicht ein unbestimmtes Denken angenommen
werden, dem ein unbestimmter Gegenstand entspräche. Denn die
Denkthätigkeit vollzieht sich nothwendig in bestimmter "Weise, so
dass ein unbestimmtes Denken nichts anderes als ein unausgeführ-
tes Denken wäre. Anderseits wäre ein unbestimmter Gegenstand