Page 49 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
P. 49

Das Inertialsystem vor dem Forum der Naturforschung.  37

     Skepticismus getroffen, der auf alle hohen und höchsten mathemati-
     schen Abstractionen angewandt werden kann, nämHch : eine äußerste
     begriffliche  »Destillation«  des Wirklichen zu  sein.  Solche  »Destil-
     lationen«  oder Abstractionen kann aber einmal die mathematische
     Physik just  so wenig entbehren,  als die reine Mathematik; und so
     wenig  diese  den Begiiff der geraden Linie aufgeben darf, genau
     ebenso wenig jene den Begriff des Inertialsystemes und die proto-
     tj'pische Idealconstruction eines solchen.
         Der  springende Punkt   des  von Frege, Johannesson und
     Kleinpeter erhobenen gemeinsamen Einwandes lässt sich nun dahin
     präcisiren: Da Lange an    die  drei Fundamentalpunkte seines Iner-
     tialsystemes die Bedingung des Unbeeinflusstseins knüpft, über deren
     Erfülltsein oder Nichterfülltsein doch nur  die Geradlinigkeit oder
     Krummlinigkeit ihrer Bahnen Auskunft zu geben vermag, so bleibt
     ein Cirkel bestehen. —
         Wenn   sich der Begriff des Inertialsystemes mit seiner prototypi-
     schen Idealconstruction vollkommen deckte, so müsste ich das aller-
     dings zugeben.  Ich würde mich alsdann sogar genöthigt sehen, die
     Anerkennung,   die  sowohl Frege   als auch Kleinpeter meinem
     Versuch zollen,  dass er nämHch über  die wirkliche Bedeutung des
     Beharrungsgesetzes ein wesenthch helleres Licht verbreitet habe, mit
     Dank abzulehnen.   Der Cirkel ist aber, soviel mir wenigstens scheint,
     lediglich  ein  formeller und  kein  sachlicher;  er  trifft  einzig den
     sprachlichen Ausdruck der vorgeschlagenen Idealconstruction, nicht
     aber  den  begriffhchen  Inhalt  der  Partialconvention  als  solcher.
     Dies  erhellt in  voller Deutlichkeit, wenn ich darauf hinweise, dass
     die  analytischen Entwicklungen,  die  der  Definition  des  Inertial-
     systemes  vorangehen, rein phoronomischer Natur        sind.  Die
     Wurzel   der ganzen Auseinandersetzung Hegt doch    in dem   rein
     phoronomisch geführten Nachweis, dass die geradHnige Bewegung
     von n Punkten    in Bezug auf einen und denselben starren
     Kaum Sache     der bloßen Convention       über  diesen Eaum   ist
     solange die Bedingung w ^ 3 zutrifft; dass dagegen, wenn für w> 3

     ein  starrer Raum phoronomisch mögHeh    ist,  worin alle n Punkte
     geradHnig fortschreiten, dies als ein höchst merkwürdiges Zusammen-
     treffen, sozusagen  als ein »singulärer Fall« betrachtet werden muss,
     vergleichbar etwa der >zufälHgen« Lage von mehr als drei Punkten
   44   45   46   47   48   49   50   51   52   53   54