Page 71 - Wilhelm Wundt zum siebzigsten Geburtstage
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Das Inertialsystem vor dem Forum der Naturforschung.  59
     einmal nicht jeder vertragen ; so sicher es auch feststeht, dass sie im
     Rahmen der Wissenschaft als unvermeidlich in den Kauf genommen
     werden muss.   Es  ist zweierlei,  ob man  die Beziehungsnatur der
     Bewegung im Princip anerkennt,    oder  ob man beim Aufbau der
     Mechanik  consequent  auf  diesem Standpunkt  stehen  bleibt.  Das
     System dieser Wissenschaft kann ohne das Mysterium der »ab-
     soluten Bewegung« aufgebaut werden;         dieses Mysterium wird
     sich  aber immer  wieder  auf's Neue  in  die  arglosen  Seelen  der
     Lernenden einschleichen, wenn wir nicht radical den Gebrauch des
     Wortes »absolut« (auch im übertragenen Sinne] aus der Mechanik
     verbannen.
        Johannesson kommt am Ende seiner Arbeit zu dem Ergebniss,
     dass  die Wahrheit des Beharrungsgesetzes zu den Vereinbarungen
     gehöre; dasselbe drücke keine Erkenntniss, »sondern eine Vorschrift,
     eine sogenannte Forschungsregel,  aus«***^).  Zur Bekräftigung  dieser
     Auffassung  citirt Johannesson u.  a. den Sophisten Protagoras
     von Abdera, nach dessen Ansicht   »alle menschliche Erkenntniss im
     letzten Grunde Willkür  sei«i<^4).  Auf Kant und Mach   dürfte  er
     sich jedenfalls nicht mit gleichem Recht berufen.  Denn  bei  aller
     Betonung der subjectiven und insbesondere der conventionellen Ele-
     mente  des Denkens haben beide Forscher doch mit größter Ent-
     schiedenheit an dem Vorhandensein    einer objectiven   Seite  des
     »Phänomenon« festgehalten; und wenn zwar bei Kant     diese Aner-
     kennung des »Objectiven« (Gegebenen) dazu führte, dass er glaubte,
     den  »absoluten Baum«   nicht  aus den Grundlagen   der Mechanik
     eHminiren zu können (so gern er es auch gethan hätte), so bedarf es
     doch schwerhch irgendwelcher Citate oder sonstiger Nachweise, um
     zu begründen, dass das rühmliche Zeugniss erstmaliger consequenter
     Fernhaltung des Absoluten aus der mechanischen Erkenntniss Mach
     nicht vorenthalten werden darf. Man kann, um es kurz auszudrücken,
     zugeben, dass die Natur ein der menschhchen Erkenntniss sich auf-
     drängendes fremdes,  d. h. außerhalb der psychischen Willkür
     gelegenes Element,   dass  sie ein  »Objectives«  aufweist; und man
     braucht darum noch lange nicht zuzugeben,   dass  die thatsächhche
     Construirbarkeit  dynamischer Bezugssysteme einen  tieferen Hinter-
     grund im Bereich des Absoluten haben müsse, oder dass gar durch
     Anerkennung   eines solchen Hintergrundes  die Mechanik auch nur
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